Absolution - Roman
rast, und frage mich, ob sie wohl auf unsere verborgene Verbindung anspielt – ob es möglich ist, dass sie sich an mich aus der Zeit vor Jahrzehnten erinnert – oder auf etwas ganz anderes, ein Geheimnis über sich, das ich mir nicht ansatzweise vorstellen kann.
Sie schüttelt den Kopf. »Sie haben die falschen Fragen gestellt. Wie, glauben Sie, können Sie über mein Leben schreiben? Sie haben nichts außer einem Gerippe von Fakten, das Sie mit Ihren Spekulationen ausstaffieren werden. Ich habe Ihnen nichts gezeigt. Weil Sie glauben, Sie wüssten jetzt, warum ich in einer Lebensphase vielleicht meine eigenen ausgefeilten ethischen Grundsätze verletzt haben könnte, werden Sie nun ein Polster aus Muskeln und Haut malen und sagen: »So ist sie, hier, wie ich sie gezeichnet habe.«
Sie nimmt den fotokopierten Bericht und legt ihn in die grüne Mappe zurück. »Sie stecken unter diesem Scheffel fest und beleuchten was? Nichts. Ein dunkler leerer Raum. Auf meine größten Geheimnisse fällt kein Licht. Ich war bereit, Ihnen Dämonen zu zeigen. Aber diese Arbeit zu tun haben Sie mir überlassen, falls ich mich entscheiden sollte, sie zu tun.«
So zeigt sie sich mir und das sind ihre Worte, wie ich sie aufgenommen und transkribiert habe, aber als ich den Text von Neuem lese, stelle ich fest, dass ich nicht mehr weiß, wer sie ist: dieses System ständiger kleiner Explosionen, das in einem großen Hautsack steckt.
ABSOLUTION
Da für das Wochenende kühles Wetter erwartet wurde, schlug Marie einen Ausflug mit dem Auto vor.
»An den Strand?«, fragte Clare, überlegte es sich dann aber anders. »Nein, nicht an den Strand. Zu windig.«
»Dann nach Stellenbosch«, sagte Marie.
»Ja, gut.«
»Und vielleicht möchtest du einen Zwischenstopp am Friedhof machen, um das Grab deiner Schwester zu besuchen. Wir sind schon so lange nicht mehr dort gewesen.«
»Ja, sehr gut. Vielleicht ist es Zeit, dass ich wieder einmal hingehe, um zu kontrollieren, dass sie sich nicht herausgebuddelt hat.«
Clares Eltern konnten nicht so einfach besucht werden; sie waren beide eingeäschert und ihre Asche bei starkem Wind an der Spitze der Welt verstreut worden, sodass sie ihr um den Kopf herumgewirbelt war und in die Luft über den Wellen getragen wurde, wo zwei Ozeane aufeinandertreffen.
Sie verließen das Haus und Marie fuhr auf der N2, bog auf den Baden Powell Drive ab, durchquerte Stellenbosch und fuhr dann hinauf in die mit Weinstock bewachsenen Hänge und nach Paarl hinein.
Der Friedhof wirkte unnatürlich weiß, Grabsteine aus weißem Marmor, umringt von weiß getünchten Mauern, die Gräber gepflegt von fetten weißen Männern mit sonnenverbrannter Haut, die verblichene weiße Lilien auf Noras und Stephans Gräbern täglich durch frische ersetzten, was privat bezahlt wurde. Der wilde Feigenbaum stand noch draußen vor den Mauern, von Ranken überwuchert, und das Sprachendenkmal war jetzt hinter dem Baum zu sehen. Noras Grab befand sich neben dem ihres Mannes an einem Ehrenplatz, gleich neben der ewigen Flamme, die den Gerüchten nach vor Kurzem nachts erloschen war. Aber an diesem Tag brannte sie, blau-golden unter den bleiernen Wolken, und hob sich stark von den weißen Kreuzen ab, die bleich bis zur Unsichtbarkeit vor der weißen Mauer standen, die den Totenacker, die Begräbnisfarm, umgab.
Es war ein Ort von solcher Weiße, dass die – eher aus modischen Überlegungen als aus Gründen der Pietät – schwarz gekleidete Clare wie ein Eindringling wirkte. Und dann bemerkte sie, dass es noch einen Eindringling gab, schwarz und klein und rund, unten an den Gedenkstein auf Noras Grab gelehnt. Clare wusste, was es war, noch ehe sie es deutlich gesehen hatte; sie wusste es beim ersten stumpf-metallischen schwarzen Glänzen, nur halb zu sehen und seinerseits die ewige Flamme halb verdeckend. Es war die schwarze Blechschachtel ihres Vaters. Ihr war kalt in der Hitze und sie legte die Hand auf Maries weißen Ärmel. Als sie beim Grab ankamen, beugte sich Clare vor und hob die Schachtel auf.
Es war unmöglich; es war zu entsetzlich, sie hier zu finden. Irgendwie war es genau, was sie erwartet hatte. Sie nahm den Deckel ab. Die Perücke war da und sie stellte sich für den Bruchteil einer Sekunde vor, dass auch der Kopf ihres Vaters dort war und sie anstarrte, obwohl das unmöglich war, denn sein Kopf war zu Asche zerfallen, in die Winde verstreut. Clare glaubte sich schreien zu hören. Sie wusste, dass sie Bescheid wussten. Sie
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