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Absturz

Absturz

Titel: Absturz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gstaettner
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am Ende der Hauptnachrichtenshow schaltet das Staatsfernsehen live in die Loge des Volkstheaters, wo stechenden Blickes der gestrenge alte Kulturchef des Staatsfernsehens sitzt, das fleischgewordene Kunstgewissen der Republik, das das Mikrofon mit dem roten Kopf wie ein Zepter hält und nun auf das grüne Licht wartet, um die Nation mit seinem Premierenbericht zu versorgen. Millionen und Abermillionen von Dichterinnen und Dichtern hat er von den Logen dieser Welt aus ohne mit der Wimper zu zucken zerbrochen und zerstört, und ausgerechnet du bist der einzige Mensch im ganzen Land, der jetzt nicht hören kann, was der oberste Theaterscharfrichter des Theaterweltreichs zu sagen hat, denn du bist ja, wie alle sehen, in diesem Augenblick gerade unten auf der Bühne, nimmst den Premierenapplaus entgegen und verbeugst dich. Was heißt verbeugen? Du hältst wieder einmal Gangaufsicht, weißt nicht wohin mit Kopf und Händen und möchtest nichts lieber als hier raus und eine Zigarette rauchen …
    Jedenfalls konntest du von deiner Position aus nicht sehen, dass sich der Kopf des Fernsehsuperkritikers live auf Sendung plötzlich und unvermutet ebenfalls in pures Gold verwandelte und meldete, es sei gerade ein großer Theaterabend zu Ende gegangen, es sei eine Überraschung, eine Entdeckung … man müsse unbedingt … aber lassen wir das. Man will ja nicht unbescheiden sein. Wenn man dem Chef der Kulturredaktion des Staatsfernsehens so zuhörte, hätte man durchaus den Eindruck gewinnen können, der soeben vom Himmel gefallene Urheber der Uraufführung sei selbstverständlich im Intercontinental oder im Imperial oder im Bristol abgestiegen und nicht in der Pension Rathaus. Und er sei auch nicht »einquartiert worden«, sondern er habe »residiert«.
    Ganz gestorben war das Theater für dich also doch noch nicht. Aber lassen wir einmal jemand anderen von deinen Streichen erzählen, junger Mann, zum Beispiel den Schauspieler Settembrini und seine in die Hauptstadt importierte Berliner Schnauze. Der Ort seiner Erzählung ist das Theater selbst. Die Bühne ist die Bühne, nur seitenverkehrt, und Settembrini ist etwas sehr Unangenehmes passiert. Der Vorhang zur dritten Vorstellung deines Stückes  Schopenhauer  fällt, Applaus. Settembrini liegt an seinen Stuhl gefesselt umgefallen rücklings auf der Bühne und kann sich nicht befreien. Zwei Bühnenarbeiter, Josef und Max, kommen ihm zu Hilfe.
    »Es ist schon wieder der zweite Nackenwirbel«, stöhnt Settembrini. »Wenige Menschen haben in ihrem Leben Gelegenheit, den zweiten Nackenwirbel so präzise kennenzulernen wie ich. Es geht nicht, Josef, ich komme nicht alleine hoch.« So ein Pech muss man einmal haben! Das zweite Mal in drei Vorstellungen! Dabei ist die Rampe jetzt ohnehin abgetragen.
    »Das Publikum«, meint Josef, der sich an den Fesseln zu schaffen macht, »hat gar nichts bemerkt. Die Leute glauben, Ihr Sturz gehöre zur Inszenierung.«
    »Die Kritiker haben das auch geglaubt«, gibt Settembrini zurück. »Der Röntgenologe hat gesagt, ich hätte mir das Genick brechen können. Er hat gesagt, damit sei nicht zu spaßen. Übergangene Gehirnerschütterungen können unvorhergesehene Komplikationen nach sich ziehen. Ein programmatischer Satz. Ich habe dem Röntgenologen gesagt, es handle sich um eine Komödie. Der Röntgenologe hat widersprochen.« Philipp hat seinen  Schopenhauer  »Keine Tragödie« genannt. Nur hat das Volkstheater den Untertitel am Transparent an der Fassade gestrichen. Saublöd!
    Nun helfen die Bühnenarbeiter Settembrini hoch und treten eilig zur Seite, der Vorhang geht auf, der Applaus schwillt wieder an, Settembrini verbeugt sich tief, der Vorhang fällt, Settembrini verbeugt sich nochmals tief vor dem heruntergelassenen Vorhang und flüstert: »Bleds Publikum! Bleds Publikum!« Wie zur Strafe friert Settembrinis Körper bei der zweiten Verbeugung ein, er fasst sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an den Rücken.
    »Es ist diesmal doch nicht nur der zweite Nackenwirbel. Ich kann mich nicht mehr bewegen!« Das Stück verstoße ja gegen alle sicherheitspolizeilichen Bestimmungen, meint Josef, während er Settembrini hinter dem gefallenen Vorhang fertig entfesselt und ihm in den Stuhl zurück hilft.
    »Die Direktion weiß das ja, und sie weiß, dass wir unterversichert sind. Deswegen muss doch alles so echt und absichtlich aussehen. Deswegen müssen wir so gutes Theater spielen. Für gutes Theater ist ein schlechtes Theater kein Hindernis. Alles

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