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Absturz

Absturz

Titel: Absturz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gstaettner
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Hirntod-Hightech-Diagnostik sein, und wir werden nicht mehr sein …
    In einer Schuhschachtel am Dachboden hast du vergilbte Schwarz-Weiß-Fotografien gefunden, auf denen dein zweijähriger Vater verschwommen und hinter zahlreichen Grauschleiern verborgen in Mädchenkleidern und mit Mädchenfrisur zu sehen ist. Seinerzeit, hat er erzählt, war das so üblich. Im Lauf seines Lebens sind die Fotografien dann immer besser geworden. Mit einer Minolta Dynax Spiegelreflexkamera (schneller Autofocus, Blitz mit Vorblitz gegen rote Augen, Motor, Programmautomatik, Zeitautomatik, Blendenautomatik, manuelle Belichtungssteuerung, Selbstauslöser) hat deine Schwägerin den wehrlosen Eichensarg zwischen den Elektrokerzen im Aufbahrungsraum fotografiert, vor dem auf einem Schild der Name deines Vaters zu lesen war. Der  Selbstauslöser  hat nicht funktioniert, der  Vorblitz  gegen rote Augen war nicht nötig. Davon abgesehen haben in diesem fortschrittlichen Jahrhundert die Begräbnisse die wenigsten Fortschritte gemacht, und ich nehme an, dass unser Vater nicht viel anders beerdigt worden ist als unser Urgroßvater: Nach allem, was war, ganz ohne Mausklick, Download, Sensortechnik,  ABS , Laser, Satellitennavigationssystem, Automatik, digitaler Übertragungsqualität. Ganz ohne Siemens, Philips, Bayer Leverkusen, ganz einfach händisch und mechanisch wird ein Sarg ins dunkle, feuchte Erdreich gelassen, und – zack – ist ein Mensch für immer weg: ein Computerspezialist, ein Landeshauptmann, ein Nierenexperte, ein Astronaut, ein Präsident der Industriellenvereinigung, ein Papst, ein  Poeta laureatus : Zack, und die Biografie ist fertig – falls sie jemanden interessiert. Auffällig – und der technischen Entwicklung zu danken – ist vielleicht, dass in diesem Jahrhundert die berühmten letzten Worte großer Persönlichkeiten deutlich abgenommen haben: Bis heute einer zum Sterben entlassen wird, kann er außer Sterben wirklich gar nichts mehr.  Zu viel Licht! , müsste man sich vor dem Exitus beschweren!
    Auf einer  TDK -High-Quality-Standard Super Avilyn Video Cassette (ideal for re-recording) ist für alle Zeiten gespeichert, wie Papa vier Monate vor seinem Tod, am fünften Dezember, noch von den vier Augenoperationen mitgenommen, das letzte Mal in seinem Leben für seine Enkel als Nikolaus geht. Diese alljährlichen Nikolausstegreiftheaterstücke waren die bedeutendsten Freuden seines Alters, und auf diesem einen Filmmitschnitt sieht Papa tatsächlich  päpstlicher als der Papst  aus, also schwer krank und mitgenommen, aber entschlossen, sein Schicksal bis zum bitteren Ende demütig hinzunehmen. Sechs Päpste hat Papa erlebt (und seit der Erfindung des Fernsehens keinen Segen  Urbi et orbi  und keine Papstmesse versäumt). Sein letzter Papst – der aus Polen, sozusagen der Wiedervereinigungspapst – war auch immer sein eigener Gradmesser. Jeden Christtag und Ostersonntag in den Neunzigern sagte Papa besorgt:  Der Papst schaut schlecht aus!  Darauf die Mutter entsorgend:  Viel schlechter als du!  Und wieder der Vater:  Er ist eben schon zwei Jahre älter!  Der Papst hat noch ein halbes Dutzend Jahre schlecht ausgeschaut und gelitten, dann ist auch er Papas Weg gegangen, und das Konklave hat sich für einen steinalten Nachfolger als Papst, als  Papa  entschieden.
    Ausgerechnet an jenem letzten Nikolaustag seines Lebens hat Papa erfahren, dass Emmas Gynäkologin eine Schwangerschaft diagnostiziert hat. Du warst an diesem Tag gerade von einer Lesereise durch Tschechien zurückgekommen und konntest es kaum glauben, da doch eben diese Gynäkologin bei einer Routineuntersuchung vor drei Wochen eine neuerliche Schwangerschaft so gut wie ausgeschlossen hat … Du würdest noch einmal Vater, der alte Kommerzialrat Möller würde noch einmal Großvater werden und in seiner Paraderolle als Nikolo am nächsten fünften Dezember noch ein Säckchen mitbringen müssen. Er nickte und sagte: Wir brauchen noch einen Stuhl am Tisch. Ein müdes, gütiges Lächeln ist über sein Gesicht gehuscht, als er die erste Ultraschallaufnahme seiner Enkelin, diese sich in galaktischem Nebel verlierende Spirale, zur Hand genommen hat. Groß war der Qualitätsunterschied ja nicht zwischen dieser Prophezeiungssonografie und den Fotografien seiner eigenen Kindheit. Der nächste Nikolaus war dann aber nolens volens ein ahnungsloser Fremdling im Bischofskostüm, der die  Goldenen Punkte  im guten, alten  Himmelsbuch  nicht

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