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Abteil Nr. 6

Abteil Nr. 6

Titel: Abteil Nr. 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Liksom
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entsetzlich aussehende Fleischmasse zu ihrem Lada und richteten sich auf, wie um zu überlegen, auf welche Weise sie den sterbenden Mörder am besten in ihrem kleinen Auto verstauen sollten. Als einer der Milizionäre den Messerstecher packte, um ihn in den Kofferraum des Lada zu hieven, riss sich der Mann los, hüpfte auf einem Bein und Blut spuckend zur Wagentür und setzte sich auf die Rückbank.
    Nach dem quälenden Kreischen der Bremsen, glitt der Bahnhof von Perm ins Zwielicht vor dem Fenster. Die junge Frau blickte auf den Mann, der im Schlaf wimmerte, ächzte, zitterte und vor sich hin murmelte.
    Auf dem Gang hörte man Arisas Stimme.
    »In dieser Stadt gibt es nichts als besoffene Soldaten.«
    Die junge Frau sah den Wind auf einem leeren Gleis mit dem umherirrenden Kadaver eines Kartons kämpfen. Ein kalbgroßer, dünner Hund schlabberte braunes Wasser aus dem kleinen Loch in einer zugefrorenen Schlammpfütze. Wenig später pfiff die Lokomotive laut, und der Zug beschleunigte. Perm, die letzte Stadt vor dem Ural, blieb zurück. In den Lautsprechern wisperte bitter-heiter Rimski-Korsakows Wikinger-Arie. Ab und zu füllten entgegenkommende Züge das Fenster, dann wieder Zäune, Lagerhallen, Gebäude im Bau oder unter Abriss, Licht, Dunkel, Baracken, Zäune, Stromleitungen, sich endlos kreuzende Kabel, Metallschrott, geschändete Landschaft, Licht, Dunkel, wilde Natur und eine alte Lokomotive. Zurück blieb Perm.
    Der Mann schlief entspannt auf seinem Bett, mit sanfter Miene. Die junge Frau las in Garschins Roter Blume : »Und er schritt die Freitreppe hinunter. Nachdem er sich scheu umgeblickt und den Wärter nicht bemerkt hatte, der hinter ihm stand, überschritt er das Beet und streckte die Hand nach der Blüte aus, aber er konnte sich nicht entschließen, sie abzureißen. Er verspürte ein Brennen und Stechen in der ausgestreckten Hand und dann im ganzen Körper, als ob ein starker Strom einer ihm unbekannten Kraft von den roten Blütenblättern ausginge und seinen ganzen Körper durchdränge. Er trat näher heran und berührte fast die Blüte mit der Hand, doch schien es ihm, als wehrte sie sich, indem sie einen giftigen, tödlichen Atem verbreitete.«
    Dieses Mal löste das Buch keine Beklemmung in ihr aus. Sie dachte an Mitkas Beschreibung der Psychiatrie: ein Ort, an dem sogar die Verrückten in Gefahr geraten, verrückt zu werden. Sie mochte das Buch über den kranken Protagonisten so sehr, dass sie gern mehr über ihn gelesen hätte, über seine seltsam verdrehte Welt, über Mitkas Welt. Sie dachte an das Irrenhaus im Buch und an die Klinik, in der Mitka gerade noch gewesen war. Hatte sich in hundert Jahren etwas verändert? Vielleicht stand in Mitkas Zimmer etwas weniger Wasser auf dem Boden als im Zimmer des Patienten im Buch. Wie viel Zeit war hier nötig, damit die Dinge anders wurden? Konnte die Zeit überhaupt etwas ändern?
    In der Ferne schimmerten unscheinbar und flach die Berge des Ural. Sie machten keinen großen Eindruck. Dann huschte an einer Haltestelle ein Schild vorbei, auf dessen nach Westen weisendem Pfeil »Europa« stand und auf dem nach Osten weisenden »Asien«. Einige Stunden später rückten die Berge allmählich nach hinten.
    Die junge Frau war eingeschlafen und wachte davon auf, dass der Mann etwas vor ihrer Nase hin und her bewegte. Sein Messer? Erschrocken öffnete sie die Augen.
    »Du wächst zu viel, mein Kindchen, wenn du so viel schläfst. Dein Arsch schwillt an, pass auf.«
    Er schaute sie gespielt grimmig an, dann stellte er die Papiernelke in die Vase zurück.
    Am südlichen Himmel rannten brennende Wolken nach Norden, die blasse Sonne mühte sich über die höchsten Fichtenwipfeln hinweg. Die alten, von zottigen Eiskristallen verzierten Birken sahen aus wie blühende Faulbäume, die in einem verkommenen Garten Trost spenden. Mit geschlossenen Augen saß die junge Frau auf dem Bett. Sie konzentrierte sich, legte beide Hände unterhalb des Halses auf die Brust und versuchte, ihren Atem zu beruhigen.
    Nach kurzer Entspannung öffnete sie die Augen und suchte ihre Kopfhörer. Sie sah den Mann an, der Mann machte den Mund auf, ohne sie anzuschauen.
    »Mir geht es oft so, dass ich denke, ich tue etwas so und so, und dann mache ich es doch anders. Damals, als ich jung war, als ich die Wimma bumste, dachte ich, das ist eine Fotze, die ich nicht mehr hergebe. Aber wie kam es? Ich spielte Karten und verlor alles, sogar Jacke und Ledergürtel. Weil ich sonst nichts mehr hatte,

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