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Abteil Nr. 6

Abteil Nr. 6

Titel: Abteil Nr. 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Liksom
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nahm ich Wimma als Einsatz. Und verlor. Wimma verschwand wie ein Kaninchen im Zylinder des Zauberers, seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.«
    Er füllte Wasser in den Samowar und schaltete ihn ein, mit einem kleinen Löffel maß er Tee in die Emaillekanne ab. Dann wurde gewartet, bis das Wasser kochte, der Tee gezogen hatte und man ihn in die Gläser gießen konnte.
    »Wenn wir Läuse oder meinetwegen Wanzen wären, dann wäre ich eine Wanze, die unbeweglich auf der Stelle hockt und auf etwas starrt, was sonst keiner sieht. Du aber würdest hin und her schießen, bis du erschöpft wärst und sterben müsstest. Aber wenn wir Kakerlaken wären, würden wir uns sofort unserem Trupp anschließen. Der würde sich gut um seine Mitglieder kümmern, und jeder würde jedem helfen, egal, was passiert. Zusammen würden wir für all das die Verantwortung tragen, was bei uns passiert. Was ist ein Trupp? Eine Clique, ein Zusammenschluss. Menschen, die immer zusammenhalten. Die Kakerlaken haben recht. Im Guten wie im Bösen.«
    Der Zug bremste sanft, als er sich der Stadt Swerdlowsk näherte. Lichter und Schatten glitten ruhig vorüber. Weiche, stockende winterliche Dämmerung munkelte in den Nebenstraßen, in den Parks und auf den Plätzen der Stadt. Auf dem Gleis nebenan quietschte ein Regionalzug. Eine Welle von Menschen aus den Vorstädten überflutete den Zwischenbahnhof, der orangefarbene Vollmond reflektierte auf den von Hunden gelb gepissten Schneewällen. Und die Sterne am Himmel wie riesige Öffnungen in eine andere Wirklichkeit, dieselben wie in Moskau und doch andere.
    Der Zug schwankte und erhöhte die Geschwindigkeit. Bald sauste er wieder dahin, und all die Dörfer, die einst östlich der Stadt entstanden waren, blieben weit zurück. Der Mann wälzte sich in Kleidern auf dem Bett. Die junge Frau setzte die Kopfhörer auf und schloss die Augen. Von der Musik wurde sie ins herbstliche Moskau geführt, wo der graubärtige Hauswart das trockene Herbstlaub kehrte, sie führte sie ins Licht auf den Fluren der Universität, in den Geruch der frisch gestrichenen Geländer, in die schlichte Schönheit der Kleiderhaken auf den Ämtern.
    Als sich vor dem Fenster die volle samtschwarze Nacht auftat, entkleidete sich der Mann schließlich verschämt, schlüpfte unter die Decke und drehte der jungen Frau den Rücken zu, ohne auch nur Gute Nacht zu sagen. Die junge Frau war müde, konnte aber nicht schlafen. Sie starrte in die tiefe Finsternis Russlands, bis sie sich in den frühen Morgenstunden endlich die Decke über den Kopf zog und in unruhigen Schlaf fiel.
    Am Morgen stahl sie sich in den Bereich der Waggonbedienerinnen. Arisa putzte gerade den Gang, und Sonetschka saß alleine im Abteil, mit dem Rücken zur Tür. Die junge Frau bestellte zwei Tee und Salzbrezeln. Sonetschka nickte, drehte sich aber nicht zu ihr um. Als die junge Frau schon wieder gehen wollte, kam Arisa rückwärts mit ihrem lettischen Blecheimer vom Gang.
    »Kirow war der große Anführer von Leningrad, den Stalin dann aufgespießt hat. Zuerst werden mit den Verbündeten die Feinde abgeschlachtet, dann mit den Freunden die Verbündeten, dann die Freunde. Die Übrigen werden ausgelost. Unschuldige gibt es nicht. Der Mensch ist immer mit etwas unzufrieden, und das kommt ans Tageslicht. Der Schuldige wird gesucht und gefunden, und innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach seiner Festnahme hat man dafür auch einen Grund. Vergessen Sie das nicht!«
    Die junge Frau kehrte in ihr Abteil zurück, legte sich hin und tat so, als ob sie schliefe. Sie dachte an die drei Jahre, die sie in Moskau studiert hatte. Das erste Studienjahr hatte sie fest in der finnischen Studentenclique gesteckt, die auseinanderfiel, als Maria nach Finnland zurückkehrte und Anna nach Kiew ging. Dann hatte sie sich mit Franz angefreundet. Franz war ein West-Berliner Philosophiestudent gewesen, der Ulrike Meinhof bewundert und die Angewohnheit gehabt hatte, verächtlich die Lippen zusammenzukneifen, wenn er anderer Meinung war. Eines Tages brach er das Studium ab und ging nach West-Berlin zurück. Dadurch war sie alleine und bekam die Chance, Mitka kennenzulernen.
    Einige Werst später wachte der Mann mit einem Zucken auf und setzte sich, ohne die Augen zu öffnen. Seine fettigen Haare klebten am Kopf.
    Energisch und scharf klopfte es an der Tür.
    »Hier euer Tee, Genossen«, sagte Arisa mit zornig trockener Stimme.
    Die junge Frau nahm rasch ein paar Münzen aus ihrer Kleingeldbörse und

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