Abteil Nr. 6
Bahnhof von Tjumen.
»Der Zug hält ein gutes Stündchen oder zwei«, rief Arisa. »Also so lange er will.«
Auf dem Bahnsteig standen Holzkisten. Die junge Frau stapelte drei davon aufeinander, um ans Fenster zu gelangen, zog ihr Stofftaschentuch heraus und wischte eines der Gangfenster sauber.
Anschließend ging sie auf das dunkelrote, von wallendem Nebel umgebene Bahnhofsgebäude zu. Sie umrundete es und blieb an der Südseite stehen. Das Gebäude war hässlich und heruntergekommen, die Dachrinnen waren gebrochen, Teile des Blechdachs hingen herab und verdeckten die Fenster im oberen Stock, der Sockel hatte an vielen Stellen Sprünge, alles fiel auseinander. Im Hintergrund zeichnete sich ein schmutziger Industriekomplex ab.
Eine der hohen Eichenholztüren des Bahnhofsgebäudes stand offen, und die junge Frau betrat hinter einer verkrüppelten Krähe die Halle. Sie war leer und weitläufig, die Luft feuchtkalt und schwer, gieriger Nebel schwebte über der Stille. Am Bierstand dösten zwei Hunde mit weißen Zähnen, aus der Kaffeebude drangen gedämpfte Stimmen und der muffige Geruch nach altem Hefegebäck. Ein umherziehender Fotograf hielt die junge Frau an, zeigte ihr seine Kamera Marke Moskva-2 und fragte, ob sie ein Foto von sich wolle. Sie wollte keines.
Kurz blieb sie an der Tür zum Büfett stehen, bevor sie zur Theke ging, um Salzgurken mit Schmand zu bestellen. Über den klebrigen Speisekarten surrten zwölf gut genährte Fliegen mit glänzenden Flügeln. Die Tischdecken aus Papier segelten von einem Tisch zum anderen. Die junge Frau starrte auf die Vitrine und sah einen ledrigen Klumpen Fleisch, eine Schüssel mit wässriger Nudelsuppe und eine mit rosa Cremerosen verzierte Torte.
Die Bahnhofsglocke schlug drei Mal, und der Zug setzte sich schwankend in Bewegung. Im Licht der glühend hellen Frostsonne schwebte die Ölstadt, man sah nur die Dächer der Plattenbauten, immer weiter glitt sie in die Höhe, dem Firmament entgegen. Der Zug sauste an erkaltenden Sowjetdörfern und Siedlungszentren vorbei, die Vorhöfe namenloser Städte blieben zurück. Aus einem fernen Abteil drang Schlagermusik.
Bald verließ der Zug die Moorebene, und Birkenwald, der sich unter dem schweren Schnee krümmte, nahm die Landschaft ein. Nun ging es nur noch ruckartig voran. Eine lange Schlange Güterzüge voller Öl und Kohle war vor der Lokomotive aufgetaucht.
Stunden, Minuten, Sekunden später beschleunigte er wieder, und nach und nach verschwanden die Ölstädte mit den sie umgebenden Ölfeldern und den schwarzen Flammen der Bohrtürme in der Ferne. Es herrschte noch immer sibirischer Winter, trotz erster Anzeichen des kommenden Frühlings. Hier und da stachen an geschützten Südhängen Gräser vom Vorjahr aus dem in der Sonne schmelzenden Schnee. Der Zug drosselte das Tempo und kroch dann fast. Als er ein verlassenes Lagergebäude passierte, wurde der Rauch dichter. Kleine Flammen tollten unmittelbar am Bahndamm im Gras, dahinter griffen sie gierig nach dem türkisen Himmel Sibiriens. Inmitten der Rauchwolke lief eine erschrockene alte Frau neben dem Zug her, ohne Kopfbedeckung und ohne Jacke. Außer dem Gras brannten die Bahnschwellen, und bald brannte auch die Ruine eines alten Gebäudes. Der Wind schleuderte rote Funken gegen den stählernen Rumpf des Zuges. Für einen Moment loderten die Flammen prachtvoll und kräftig auf, aber die sibirische Kälte erstickte sie wieder. Eine vom Leben gezeichnete junge Mutter nahm ihr Kind auf den Arm und deutete auf das zurückbleibende qualmende Gebäude.
»Schau, so hat das Haus der Großmutter gebrannt.«
Der Zug trödelte lange, bis er wieder beschleunigte. Als die Dämmerung einsetzte, kam der Mann aus dem Abteil und stellte sich neben die junge Frau. Zusammen blickten sie auf den Irtysch. An den Ufern des Flusses war die Schneemasse bereits geschrumpft, man sah kahle Stellen und Erdflecken auf den Böschungen. An einem schmalen Abschnitt ragten einige riesige Betonpfeiler aus dem Flussbett. Dort hatte einmal eine Brücke gestanden, oder der Bau einer Brücke war nicht zu Ende geführt worden. Fern am Horizont schimmerte die Stadt der Kraftwerksingenieure.
Der Mann schaute die junge Frau mit vorsichtigem Lächeln an.
»Entschuldigung, mein Mädchen, da hat wieder der Teufel sein Spiel getrieben, Lucifer persönlich; ich hab halt so starke Lust auf eine Fotze. Geh jetzt ins Abteil, damit du dich nicht erkältest. Sag Bescheid, wenn ich reinkommen darf. Ich hab ja noch
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