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Abteil Nr. 6

Abteil Nr. 6

Titel: Abteil Nr. 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Liksom
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schimmerte das Entsetzen. Arisa hob das Beil und schlug dem Tier die glänzende Klinge mitten auf den Kopf. Die Klinge drang in den Schädel ein, aber der Elch war noch nicht tot.
    Kopfschüttelnd machte sich der Mann auf den Weg zu dem brüllenden, sich windenden Tier, zog sein Klappmesser aus dem Stiefelschaft, ließ es aufschnappen und stach es dem Elch in die Halsschlagader. In einem Bogen spritzte das Blut in den Schnee, und dann war es für einen Moment ganz still.
    »Die Fahrt geht weiter!«, rief Arisa scharf und trieb die Leute in die Waggons zurück.
    Drinnen wischte der Mann sein Messer am Stiefelschaft ab und klappte die Klinge ein. Seine Hand fuhr auf der Suche nach der Hosentasche an der Hüfte entlang, dann steckte er das Messer mit leichtem Lächeln ein. Die junge Frau wartete, dass sich der Zug in Bewegung setzte.
    »Einmal waren wir auf dem Weg nach Pskow, um in einem Kloster Reparaturarbeiten zu machen. Wir saßen in der dritten Klasse und tranken. Der Zug rumpelte langsam durch die verschneite Natur, so wie jetzt. Plötzlich merkte ich, wie der Waggon zitterte. Gleich darauf geriet er ins Kippen, und die Weiber fingen an zu kreischen. Vor dem Fenster sah ich geborstene Schienenschwellen fliegen, und der Schneewall kam näher. Eine scharfe Kurve, im Fenster der Bahndamm, und dann lag der Waggon auch schon im Schnee. Ich dachte, ich bin tot und alle anderen sind es auch. Aber nein, blutend rappelten wir uns auf, jeder in seinem Winkel. Ein Intelligenzbolzen hatte Eisen gebraucht und darum ein Stück Schiene abmontiert. Drei Tage lang gingen wir zu Fuß an der Bahnlinie entlang, bis wir die Türme des Kreml von Pskow sahen. Am Ziel machten wir gleich zwei neue Dächer, und im Frühjahr, als die Bahnlinie repariert, der Schuldige gefunden und hingerichtet worden war, fuhren wir mit demselben Zug nach Moskau zurück.«
    Die junge Frau zog ihre Kopfhörer aus dem Koffer, ließ sich aufs Bett sinken und hörte Musik. Zwischendurch schlief sie ein, wachte auf, wechselte dann von Louis Armstrong zu Dusty Springfield und schlief erneut ein.
    Der Zug jagte durch die Republik Udmurtien, jetzt ratterte er gelangweilt am Bahnhof Balesino vorbei. Der Mann rieb sich das Kinn. Die junge Frau hörte dem Pfeifen der verstopften Lüftung zu und zeichnete. Streng starrte sie der Morgen an. Der Mann klappte das Damebrett auf und setzte die Spielsteine auf die Felder, die junge Frau nahm Schwarz.
    Sie spielten drei Partien, von denen die junge Frau zwei gewann. Der Mann gratulierte ihr, indem er ihr kräftig die Hand drückte.
    Lang und andächtig ging die weiße Sonne über dem verschneiten Wald auf. Rauchförmige Wolken hetzten auf der Suche nach einem Rastplatz über das Himmelsrot. Der Mann und die junge Frau saßen schweigend da. Einen Tag oder zwei waren sie in ihre Gedanken versunken.
    Es war ein Sommertag mit türkiser Sonne gewesen. Nachdem Julia, Irinas Freundin, das Haus verlassen hatte, ging die junge Frau in Irinas Schlafzimmer und blickte auf die Bakuninstraße hinunter. Die Menschen trugen Frühjahrsmäntel, sogar zwei elegant geschnittene sommerliche Blumenkleider konnte sie erkennen. Gerade als sie den Blick abwenden wollte, bemerkte sie drei Männer unter einer Gruppe alter Ahornbäume. Zwischen ihnen ging etwas Seltsames vor: schnelle Bewegungen, einer strauchelte, Fäuste wurden geschwungen, einer schwankte. Bald darauf sah sie einen roten Blutfleck auf dem weißen Hemd eines dünnen Mannes. Ein anderer rannte davon. Die junge Frau sah ihn ein Messer auf die Fahrbahn werfen. Einer der beiden, die vom Messer getroffen worden waren, fiel auf die Erde, der andere wälzte sich auf dem Gehweg und hielt sich den Bauch. Vor dem Brotladen stand ein Lastwagen. Fünf Arbeiter krümmten sich auf der Ladefläche. Sie rannten dem Messerstecher hinterher, erwischten ihn und brachten ihn auf der Fahrbahn zu Fall. Alle fünf schlugen und traten auf ihn ein. Bald hatte der Messerstecher zig Stadtbewohner am Hals, hauptsächlich Frauen, die mit ihren Handtaschen und riesigen Süßkartoffeln nach ihm schlugen. Die junge Frau hatte den Blick auf die Opfer gerichtet. Beide lagen reglos da, niemand interessierte sich für sie. Ein Wagen der Miliz kam angefahren, und die Menschenmenge ließ widerwillig von dem Messerstecher ab. Ihm spritzte das Blut aus dem Mund und aus beiden Ohren, sein Kopf schwoll an wie eine Wassermelone, ein Bein war unnatürlich verdreht. Zwei Männer stiegen aus dem Milizauto. Sie schleiften die

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