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Abteil Nr. 6

Abteil Nr. 6

Titel: Abteil Nr. 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Liksom
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bezahlte. Der Mann sah sie verdutzt an.
    »Um den Tee kümmere ich mich. Ist das klar?«
    Sie nickte verlegen. Weit in der Ferne lagen die letzten Höhenzüge des Ural.
    »Gräm dich nicht, mein Mädchen. Jeder will sich gebraucht fühlen. Ich verstehe das, aber es gibt im Leben bestimmte Regeln, die jeder Genosse befolgen muss. Du bist hier mein Gast.«
    Er holte eine Zigarette unter dem Kopfkissen hervor und zündete sie an. Dann machte er die Abteiltür auf und lehnte sich an den Türrahmen.
    »Das Leben ist bloß hinter einem seltsamen roten Nebel verschwunden. Es ist nicht mehr da. Oder vielleicht noch ein kleines Stück davon. Tief in der Hosentasche – vielleicht. Ein kleiner Stummel Leben.«
    Er rauchte seine Zigarette und kniff dabei ein Auge zu.
    »Immer wenn ich nach langer Abwesenheit heim nach Moskau komme, sieht alles traurig aus. Und wenn ich wieder wegfahre, die Tasche voller gestopfter Strümpfe und gebügelter Unterwäsche, denke ich, dass ich nie mehr zurückkehre, dass es das letzte Mal gewesen ist. Jedes Mal bin ich zurückgekehrt. Daheim langweile ich mich wie in lebenslanger Haft, aber zu Katinka sage ich, alles ist gut. Der Mensch kann nicht leben, wenn er sich nicht selbst betrügt.«
    Arisa kam mit einem Reisigbesen in der Hand aus ihrem Abteil gestürzt.
    »Aha, hier wird geraucht! Drei Rubel Strafe! Hier auf die Hand, du alter Bock!«
    Gleichgültig gab der Mann ihr einen Schein.
    »Glaubst du Narr, du kannst dir Vorrechte erkaufen? So einfach geht das nicht. So einen Widerling wie dich müsste man im Klo ertränken.«
    Der Mann fuhr sich mit der Hand durch die Haare und versetzte Arisa einen Klaps auf den Hintern. Sie verschwand, ohne sich umzublicken. Der Mann setzte sich aufs Bett.
    »Katinka ist gut im Einsalzen von Gurken. Ich hab sie sechzehn Mal geschwängert, und sie hat fünfzehn Mal abgetrieben.«
    Die junge Frau sah den Mann düster an und ließ ihr Teeglas auf dem Tisch umkippen. Heißer Tee schwappte dem Mann auf die nackten Zehen. Er knurrte, schaute die junge Frau fragend an und ging dazu über, zufrieden einen forschen Militärmarsch zu pfeifen, wobei er die Zehen im Takt krümmte.
    »Weißt du, mein Mädchen, was der Unterschied zwischen bumsen und heiraten ist? Bumsen ist leicht und macht Spaß, heiraten ist schwer und ein freudloser Krampf. Wie wär’s also, wenn wir bumsen?«
    Er leckte sich über die Unterlippe. Das Atmen der jungen Frau war voller langer Pausen.
    »Katinka ist verschimmelt, und darum ist mein Leben in Moskau nichts als eine einzige trockene Fotze.«
    Er kratzte sich zuerst mit der linken, dann mit der rechten Hand den Hinterkopf und führte beide schließlich zum Kinn. Mit einem Ausdruck schmeichlerischer Unschuld im Gesicht schaute er die junge Frau an. Durch die beklemmende Atmosphäre wurde das Abteil sehr eng. Die junge Frau blickte auf die Hände des Mannes, sie waren schwer und fordernd.
    »Wenn du nichts anderes willst, dann blas mir halt einen. Ich hab es verdammt satt, ständig mit krummem Hals zu wichsen.«
    Die junge Frau wischte sich mit dem Handrücken über die trockenen Lippen.
    »Oder wenn das nicht geht, dann halt lutschen, aber ohne Hände. Auf georgische Art.«
    Der Mann öffnete den Gürtel.
    »Du bist für mich kein Sirup, du Schlampe, aber besser als nichts. Du bist genauso ein Miststück wie alle anderen auch. Aber macht nichts. Die Muschi ist da, und den Arsch gibt’s dazu!«
    Die Augen der jungen Frau brannten vor ungeweinten Tränen, die sie versuchte mit einem Hustenanfall loszuwerden. Nun sah der Mann sie schon mit leichter Besorgnis an.
    »Bist du erkältet? Ich geb dir gleich Medizin. Wodka, Pfeffer rein und ein bisschen Honig, und die Erkältung ist tot.«
    Er suchte nach der Wodkaflasche. Da riss die junge Frau die Abteiltür auf und machte sich davon.
    In den Fenstern wuchs vereiste, zarte schneegrasige Moorlandschaft. Stunde um Stunde setzte sie sich fast gleichförmig fort, veränderte sich aber durch das Licht fortwährend. Mitten in der Ebene tauchten blaues Dickicht und ein Schneewall auf. Auf dem Wall ging eine schwankende Reihe Männer in blaugrauen Steppjacken und Stepphosen entlang. Sie trugen Hacken in den Händen.
    Am Himmel erschienen dunkle Wirbelwolken, bedeckten bald die Sonne völlig, worauf sich bedrückende Dämmerung über die Eislandschaft legte. Der Zug drosselte die Geschwindigkeit. Am Bahndamm humpelte ein dreibeiniger Hund und zog eine dünne Blutspur hinter sich her. Dann erreichten sie den

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