Abteil Nr. 6
Rucksack und gab sie dem Mann. Dieser pfiff zufrieden, steckte die Flasche in die Innentasche seiner Jacke und ging davon. Schlotternd blieb sie auf der Bank zurück. Ihre Wangen glühten rot, und an ihren Nasenhaaren hingen kleine Eistropfen. Neben ihr landete plump eine von der Morgenkälte klamme Krähe. Die junge Frau bot ihr etwas von der gefrorenen Melone an. Stolz wandte die Krähe den Kopf ab.
Sie war fünfzehn gewesen, als der Zug früh am Morgen durch die Trabantenstädte von Moskau ratterte. Sie hatte aus dem Fenster geschaut und gesehen, wie die Sonne langsam hinter dem Horizont aufging, über die roten Fahnen hinwegstieg und die Schatten der endlosen Plattenbaukolonnen surreal in die Länge wachsen ließ. Sie hatten am Komsomolez-Platz gewohnt, im Hotel Leningradskaja: sie, ihr Vater und ihr großer Bruder. Das reich verzierte Foyer des Hotels hatte sie verwirrt. Nie zuvor hatte sie ein so vornehmes Hotel gesehen, nicht einmal auf Bildern. Aus dem Fenster im sechsundzwanzigsten Stock hatte man eine großartige Aussicht auf die ganze gewaltige Großstadt gehabt. Sie hatten Vollpension, das hieß, dass sie dreimal am Tag in dem verschnörkelten Speisesaal des Hotels essen durften. Den schwarzen Kaviar verabscheute sie, aber gern hörte sie dem warmen Klappern des Rechenbretts an der Kasse zu. Sie gingen über den Lenin-Prospekt und schauten den Straßenfegerinnen zu. So etwas gab es in Finnland nicht. Am Abend fuhren sie mit dem Taxi auf den Lenin-Hügel, wo sie zum ersten Mal ihre künftige Lehranstalt zu Gesicht bekam, das neue vierunddreißigstöckige Haupthaus der Universität Moskau. So hell angestrahlt, sah der monumentale Gebäudekomplex mit dem leuchtenden Rubinstern auf dem spitzen Turm aus wie aus Tausendundeiner Nacht entlehnt. Am zweiten Tag zeigte der Vater ihr und ihrem Bruder all das, worüber er selbst im Jahr ’64 gestaunt hatte, bei seinem ersten Besuch in der Sowjetunion. Sie gingen über den Roten Platz, in Lenins Mausoleum, das im Stil des Funktionalismus erbaut worden war, und sie bewunderten die Kremlmauer. Mit dem Trolleybus fuhren sie zum Platz der Volkserhebung, um die zweiundzwanzigstöckigen Wohnhäuser zu bestaunen, und zum Smolensker Platz, um angesichts der siebenundzwanzigstöckigen Amtsgebäude den Mund aufzusperren. Der Vater erklärte, es handle sich dabei um eine Mischung aus Kreml und amerikanischem Wolkenkratzer. Außerdem besuchten sie die Gräber von Gogol, Majakowski, Tschechow und Ostrowski auf dem Nowodewitschi-Friedhof.
Am dritten Tag führte der Vater sie und ihren Bruder in den Kosmos-Pavillon in der Ausstellung der volkswirtschaftlichen Errungenschaften der UdSSR. Es war das Heiligtum des sowjetischen Weltraumkults: Modelle von Raumschiffen und künstlichen Monden in Originalgröße, allerlei kleinerer Weltraumkitsch und natürlich die kostbarste Reliquie von allen, die Raumkapsel Sojus, vor der ein pompöses Blumenarrangement im Sowjetstil drapiert worden war. Man durfte nicht hinein, aber man durfte nach Herzenslust fotografieren. Für das Mädchen war der Pavillon das Beste gewesen, was es im ganzen Leben je gesehen hatte. In ihr Tagebuch schrieb sie, wenn sie achtzehn werde, wolle sie sofort nach Moskau umziehen.
Am selben Abend aßen sie in einem usbekischen Restaurant. Ein Orchester spielte slawische Melodien, und einige Leute tanzten. Um Mitternacht ließ sich ihr Bruder auf eine Rauferei mit einem deutschen Touristen ein, und jemand rief die Miliz, die prompt beide Streithähne mitnahm. Am nächsten Tag löste der Reiseführer den trübsinnigen Bruder gegen fünfzig Dollar aus. Bevor das Restaurant schloss, hatte der Vater sich eine schöne georgische Hure gekauft, war mit ihr verschwunden und hatte, wie sich später herausstellte, von ihr Hepatitis B als Souvenir mitbekommen. Das Mädchen war alleine im Lokal zurückgeblieben. Ein dicker Kellner bestellte ihr ein Taxi, und sie verfluchte ihre ganze Familie, auch ihre Mutter, die sich Jahre zuvor davongemacht hatte, um in einer Fischfabrik in Nordnorwegen zu arbeiten. Als der Vater in den frühen Morgenstunden von der Hure zurückkam, sagte er, die Schlampe habe nach Milch geschmeckt und ihre Fotze sei tief gewesen wie die Sünde selbst. Von da an war Moskau für das Mädchen wie die steinerne Faust aus Majakowskis Gedicht gewesen. Nie hatte es sich davon erholt.
Eine gewaltige Sonne schluckte die schwarzen Wolken, und am Rand des Parks tauchte ein grüner, sehr verbeulter, stabil gebauter Pobeda
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