Abteil Nr. 6
gestürzt.
»Du Schwein! Hier wird nicht herumgespuckt! Ich werde dafür sorgen, dass dem Genossen Gusseisenheld die Pisse in die Hose läuft.«
Sie schwenkte heftig das Beil, und die junge Frau zog den Kopf ein. Aber dann verschwand Arisa. Der Mann blickte ihr erleichtert nach.
Bald darauf leerte sich der Gang. Eine Weile stand die junge Frau alleine da, dann ging sie ins Abteil, wo der Mann auf dem Bettrand saß, noch immer außer sich. Die junge Frau wagte es kaum, sich zu rühren. Allmählich beruhigte er sich. Er versenkte sein Kinn in der großen Pranke und seufzte immer wieder vor sich hin.
»Ich kann solche Gockel nicht ertragen. Zieht sich an wie eine Parteinutte. Diese Typen sind schuld daran, dass die Afghanen noch immer nicht besiegt sind. Dieser warme Bruder ist schlimmer als die afghanischen Kämpfer. Ich habe in den Fernsehnachrichten gesehen, was die Muselmanen da in der Wüste mit ihren Flinten machen. Sie tragen sie wie Säuglinge durch die Gegend. Und was tun die Offiziere unserer Roten Armee? Nehmen sich an den primitiven Urmenschen ein Beispiel und wackeln mit dem Arsch. Würden solche wie ich in den Krieg ziehen, wie es sich gehört, dann hätten wir diese Hutzelmännchen gleich beim ersten Angriff geschlagen. Aber nein, da wird nur rumgeschwuchtelt. Als ich in der Armee war, haben wir den Schwulen einen Spieß in den Arsch gesteckt. Ein richtiger Soldat weiß, was er mit seiner Waffe anstellt. Damit schießt man auf den Feind. Nicht mitten in die Stirn, sondern in den Bauch.«
Die junge Frau hatte nur einen einzigen Gedanken: Sie hasste diesen Mann.
Indessen kamen sie an resignierten Häusern vorbei, die von ihren Gärten geschluckt wurden, an Dörfern, die der Wald auffraß, Städten, die verschlungen wurden von der flechtenbewachsenen Taiga. Der Zug jagte nach Osten, dunkelbraune Wolken bedeckten den Himmel, aber plötzlich sah man im Süden in einem Wolkenriss einen kleinen Streifen helles Blau: Frühlingshimmel. Der Zug jagte nach Osten, und alle warteten auf den Morgen. Die junge Frau dachte daran, dass sie in einem überhitzten Zug durch das gefürchtete Sibirien reiste und dass vielleicht jemand diesen Zug sah, jemand, der sich nach Moskau sehnte, jemand, der genau in diesem Zug sein wollte, jemand, der womöglich einem Lager entflohen war, ohne Gewehr, ohne etwas zu essen, bloß mit feuchten Streichhölzern in der Tasche, jemand auf Skiern, die er einem Wächter gestohlen hatte, jemand, der ein rostiges Messer einstecken hatte und bereit war zu töten, bereit war zu darben und zu frieren, bereit, dem Leben entgegenzurennen.
Die ganze stille, stickige, düstere Nacht hindurch hatte die junge Frau auf Nowosibirsk gewartet. Auf den Schutz der Millionenstadt, darauf, dass sie wenigstens einige Stunden allein sein durfte. Die trockene, stramme Kälte Sibiriens schnitt ihr ins Gesicht und raubte ihr den Atem. Die Haarsträhnen, die unter der Mütze hervorlugten, bereiften im Nu, die Wimpern klebten aneinander, die Lippen froren zu. Auf dem Bahnsteig lauschte sie, wie der Schnee unter ihren Füßen knirschte und knirrte, wie die Schienen in der Umklammerung des Frostes knackten. Sie betrachtete das weiche Licht der unregelmäßig sirrenden Lampen. Und als sie durchgefroren wieder in den Zug stieg, traf sie im Gang auf Arisa.
»Unsere geliebte Sieges-Lokomotive mit der rot besternten Stirn hat alles gegeben. Wenn sie nicht ungestört abkühlen und verschnaufen darf, wird sie sterben. Und das kann niemand wollen. Gönnen wir ihr eine kleine Atempause, ein paar Tage Urlaub.«
Die junge Frau beschloss, in die Stadt zu gehen und sich ein Hotelzimmer zu nehmen. Dort könnte sie duschen und hätte ihren Frieden.
Als sie im Abteil ihren Koffer packte, schnappte der Mann sich ihre Kopfhörer und weigerte sich, sie zurückzugeben.
»Du kannst nicht alleine gehen. Das lasse ich nicht zu, Nowosibirsk wird dich auffressen. Wir gehen zusammen. Ich kümmere mich um alles.«
Zwei Stunden später trotteten sie dem in der Kälte erstarrten, in safrangelbem Morgenrot erstrahlenden Zentrum der Millionenstadt entgegen. Die junge Frau spürte die feste Straße unter ihren Füßen. Auf beiden Seiten der Bürgersteige wuchsen Schneewälle, die höher waren als der Mann. Dazwischen hatten die Stadtbewohner Pfade getrampelt. Steif und nach Luft schnappend, gingen sie an unbebauten Grundstücken und städtischen Gemüsefeldern entlang, alles unter Schnee begraben, sie kamen an einer Schule vorbei, an
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