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Abteil Nr. 6

Abteil Nr. 6

Titel: Abteil Nr. 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Liksom
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mit wulstigen Seiten auf.
    »Hierher, mein Mädchen! Komm her! Glotz nicht auf die erbärmlichen, vom Rost geschändeten Kopeken, sondern schau auf diese prachtvolle Schönheit«, rief der Mann aus dem offenen Wagenfenster.
    Im Nu taute die nach Benzin stinkende Wärme die mit Reif bedeckten Haare der jungen Frau auf, aber die Füße blieben kalt. Sie bewegte die Zehen, dann zog sie die Schuhe aus und rieb die Zehen mit den Händen. Die Rückbank roch nach verbranntem Leder und altem Eisen.
    Der Mann trat das Gaspedal durch, und der Pobeda tauchte in eine Seitenstraße voller Eisbrocken ein. Die verschneiten Bäume im Park, gelb von der Sonne, schauten dem Auto verdutzt hinterher.
    In irrsinnigem Tempo schoss der Wagen durch die zu Eis erstarrte Stadt in Richtung Ausfallstraße, vorbei an Kontrollpunkten und Männern mit Maschinenpistolen, der klaren Helligkeit des Landes entgegen. Zurück blieben der quälende Kältelärm der Stadt, die verrußten Plattenbauten und die geradewegs ins Weltall aufsteigenden Rauchsäulen. Beiderseits der Straße standen Reihen junger Birken, beschneit und mit weißen Stämmen. Im Geäst wuchsen die bauschigen Nester der Krähen. An den Südseiten der Häuser, die sich im drei Meter hohen Schnee versteckten, tauchten Wasserzapfstellen und Frauen in dicken Wollsachen auf. Bald wurden die Zapfstellen von quietschenden Ziehbrunnen abgelöst, die von dickem Eis umgeben waren. Der Mann fuhr so schnell über die schlierige gewundene Straße voller Winterschäden, wie es mit dem vierschrötigen Wagen nur ging.
    Bald sprang der Pobeda über den Fabrikruß auf der Straße nach Tomsk. Es schneite, und die Brücken dröhnten. Das Transistorradio auf dem Beifahrersitz spielte Moskauer Abende von Solowjow-Sedoi, der Mann rauchte eine Machorka nach der anderen und nahm einen großen Schluck aus einer hohen Fuselflasche.
    Harschiger Schnee hielt die Wälder gefangen, dazwischen lagen vernachlässigte Äcker unter dicken Schneewehen. An einer Ackerböschung standen zwei Ladas mit geknautschtem Bug. Fahrer waren keine zu sehen, aber im Schnee vereiste Blut. In vielen Kurven schien etwas Untröstliches in der Luft zu liegen.
    Überraschend ragte aus einem kleinen Kiefernwald eine alte, kränkliche Kirche auf, wie ein blühender Busch mitten im strengsten sibirischen Winter. Sie trotzte jeder architektonischen Logik, sie wirkte wie ein Spielzeug mit überraschenden Ausmaßen und wuchs unkontrolliert in viele Richtungen. Über dem Haupteingang stand: »Klub«.
    Die junge Frau schaute durch das vom Eiswind behauchte Heckfenster auf die wilde Schönheit Russlands. Bisweilen bedeckte eine funkelnde, violett-gelbe Schneewolke die Landschaft, dann wieder kroch eine Schleppe aus Schnee und Eisflocken hinter dem Auto her. Ein vereistes Distelfeld glitzerte am Rand eines düster dreinschauenden Waldes. Weit weg am Horizont schwebte rosa Pudernebel, dicke Wolken rissen am Himmel auf und flatterten wie Kinderlaken.
    Am Nachmittag passierten sie das Bezirkszentrum, einen Teich, eine Kolchose, ein Birkenwäldchen und fuhren in ein Tal hinein. Dort hatte die Sonne den Sibirienfrost bereits bezwungen, und die kurvenreiche Straße wurde sofort matschig. Der Mann klatschte mit den schwarzen Handschuhen aufs Lenkrad. Mitten auf der Straße lag ein Brunnenring, der Mann trat auf die Bremse und konnte dem Hindernis mit Mühe und Not ausweichen.
    »Verdammt, diese Muschiken! Haben ein schiefes Maul und lassen ihre Sachen von der Ladefläche fallen. Keiner merkt was, alle sind wie gebannt vom neuen Traktor.«
    Plötzlich erzitterte die Sonne am Rand eines Wäldchens und tauchte hinter einer grünlichen Wolke ab. Wenig später schlugen die ersten zinnschweren Regentropfen auf die Windschutzscheibe. Das Auto hatte keine Scheibenwischer, man sah nur sperrigen Regen durch die Scheibe, der Mann musste am Straßenrand anhalten. Die frierenden Regenkugeln hackten die Straße auf und verwandelten sie in einen schneematschigen Brei. Wie ein träger Fluss schlängelte sie sich durch das Tal. Eine Krähe mit nur einem Flügel fiel vom Himmel, der in allen Regenbogenfarben loderte.
    Bald waren der wütend prasselnde Regen samt Regenbogen verschwunden. Nun umgab dicker, grünlicher Dunst das aufrechte Wäldchen und die trostlosen Waldstreifen. Dahinter stieg eine helle Sonne auf, und strenge Kälte schlug zu. Im Nu verwandelte sie die beschädigte Straße in eine Eishalde, über die der Pobeda hüpfte wie ein Tischtennisball. Jenseits der

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