Abteil Nr. 6
schneeverkrusteten Zäunen und Gartentoren, an eisgeblümten Verandasprossenfenstern und an einer gedrungenen Frau, die weißer Kältehauch einhüllte. Stellenweise lag so viel Schnee, dass er bis zu den Lichtquellen an den Laternenmasten reichte.
An der Haltestelle wartete eine schläfrige, dampfende Menschentraube auf den Trolleybus, in dünnen Steppjacken, mit alten, bereiften Pelzmützen auf dem Kopf und imposanten Filzstiefeln an den Füßen. In den Fenstern eines Mietshauses aus Beton blinkten gelbe Lichter, und im geschützten Innenhof heulten die Hunde im Rudel wie Wölfe. Der Wind blies den Fußgängern die Rockschöße auseinander und verwehte die wehmütigen Melodien einer zerschlissenen Ziehharmonika. Friseurgeschäfte gab es in jedem Viertel. In einer Seitenstraße ragten rostige Eisenstangen und eine Schubkarre aus dem Schnee, an einer Straßenecke stand schlaff ein kaputtes tschechisches Sofa, auf dem sich durch den Wind kleine Schneewehen gebildet hatten. Sie spazierten quer durch die aus ihrem eisigen Schlaf erwachende Industriestadt, sie gingen über Höfe und entdeckten im Frosthauch die traurigste Menschenschlange des Universums. Dort stellten sie sich auf dem Glatteis an, der Mann zuerst, die junge Frau hinter ihm. Das vordere Ende der Schlange verschwand in rußigem, dickem Kältenebel. Eine Frau ging durch diesen Nebel und hinterließ darin einen Korridor, die Menschen dampften wie Pferde. Mit einer schnellen Bewegung drehte sich der Mann um.
»Wir leiden hier ohne Grund und ohne uns zu wehren. Man kann mit uns machen, was man will, wir nehmen alles demütig an.«
Irgendwo hinter der jungen Frau rief ein Alter, der große graue Augen und einen Korb voller Piroggen hatte:
»Jesus hat gelitten und uns befohlen, auch zu leiden, das ist alles.«
»Nein, sondern ein leichtes Leben. Das ist es, was wir alle wollen«, brüllte ein junger Mann mit roter Säufernase.
»Nicht alle ertragen das leichte Leben, sondern gehen zugrunde«, sagte der Alte matt und drückte sich die Pelzmütze mit den Ohrenklappen noch tiefer ins Gesicht.
»Reine Unwissenheit«, gab die rote Schnapsnase zurück.
»Im Leiden schmecken wir das Leben, Dank sei Gott. Mangel und Leere sind was Gutes«, knurrte der Alte.
»Stimmt, der Mensch kommt mit wenig aus, aber ohne dieses wenige hat er gar nichts«, rief der junge Mann.
»Sie Arschloch, mit Ihnen rede ich nicht.« Der Alte machte eine scharfe Bewegung mit der Hand, die in einem Fäustling aus Hundeleder steckte.
»Ist doch alles nur Spaß, Väterchen, regen Sie sich nicht unnötig auf, schonen Sie Ihr Herz«, beschwichtigte der Mann mit gelassenem Tonfall.
Der Alte trat neben die junge Frau und schaute den Mann mit äußerst kritischem Blick lange an.
»Hör zu, Genosse, ein einfaches Leben hält die Seele rein.«
»Und leiden läutert«, gab der Mann zurück und zwinkerte dem Alten zu.
Er kaufte eine gefrorene Melone, die junge Frau einen gefleckten, kälteklammen Apfel. Sie gingen an einer übel zugerichteten Telefonzelle vorbei, in der eine Frau mit gelbem Hals hitzig in den Hörer sprach. Ein Mann mit roten, knochigen Fesseln klopfte mit einer Münze ans Glas, um die Frau zur Eile anzutreiben. Tiefe Risse spalteten die Wände der Plattenbauten, die Balkone bogen sich unter dem Schnee, Wasser rann und tropfte herab, Türen, deren Klinken gestohlen worden waren, hingen frivol in den Angeln, und die Türöffnungen waren voller Schnee. Im Schnee begrabene, erloschene Straßenlaternen, verbogene Straßenlaternen, zerschlagene Straßenlaternen. Stromleitungen, die in der Luft hingen, offene Kanaldeckel, Kabelbündel kreuz und quer auf den Schneehaufen. Und über alldem strahlte eine pralle Sonne vom hellblauen Himmel. Seite an Seite erreichten sie den dunklen Kulturpark. Dort waren die Wege geräumt, der rissige, gefrorene Asphalt blitzte unter dem Schnee hervor. Sie setzten sich auf eine beschneite Bank. Der Mann nahm das Klappmesser aus der Tasche, ließ die stabile Klinge herausschnappen und zerteilte die Melone.
»Wollen wir eine Spazierfahrt machen? Zeit haben wir ja und werden wir immer haben. Mein Plan deckt alles ab, und dafür brauchen wir eine Flasche Whisky. Die hast du doch dabei, oder? Ich kenne hier einen Menschen, der mir nahesteht, eigentlich ein guter Freund, der ist in der Lage, alles Mögliche zu organisieren. Aber auch in diesem Land ist nicht alles umsonst. Warte hier.«
Die junge Frau überlegte kurz, zog dann die Literflasche Whisky aus dem
Weitere Kostenlose Bücher