Abteil Nr. 6
»Renovierung«.
Drinnen roch es nach Lysol. Auf dem schön gekachelten Fußboden standen Milchpfützen, in einer Ecke lagen lecke Tetrapacks. Es war rammelvoll. Der Mann trank ein Glas Wodka, biss in eine Pirogge und sagte, er gehe lieber zum Zug zurück.
Die junge Frau bestellte einen Mayonnaisesalat und eine Portion Eis, zu der mit schwarzer Schokolade überzogene Pflaumen und zweierlei Kekse gehörten.
Der Mayonnaisesalat bestand nur aus Mayonnaise, die Kekse steckten wie Heureiter in der üppigen Eisportion. Die junge Frau betrachtete die Astern auf der Fensterbank, traurige Herbstblumen, in der Vase erschlafft, weil es ihnen an Wasser mangelte. Der Himmel war im unteren Teil von dunklen Wolkenklumpen und oben von geschwungenen meerblauen Wattestreifen bedeckt. Eine schwere Straßenbahn rauschte an der Eisdiele vorbei.
Ohne Eile aß die junge Frau ihr Eis. Die Kekse ließ sie am Tellerrand liegen.
Der Mann rieb sich die Knie, als die junge Frau das Abteil betrat. Aus den beigen Plastiklautsprechern auf dem Gang kam eine Romanze von Tschaikowski. Zurück bleibt Omsk. Die geschlossene Stadt. Das ermüdete, von der Taiga aufgesaugte, gute alte Omsk, von dem die Jugend nichts wissen will. Zurück bleibt das Gefängnis, in dem der verbannte junge Dostojewski knapp dem Tod entrann, zurück bleibt das leblose Denkmal von Dostojewski im Mannesalter, zurück bleibt die Hauptstadt von Koltschaks weißer Regierung, zurück bleiben die Schlangen vor dem Schuhgeschäft, die müde Erde, die grau verschossene Reihe der Blockhüttendatschas. Das ist noch Omsk. Ein einzelnes neunzehnstöckiges Haus mitten in den Feldern, fünfhundert Kilometer Ölleitung, die gelben Flammen und der schwarze Rauch der Ölfördertürme. Wald, Lärchen, Birken, Wald, das ist nicht mehr Omsk, ein unter der Schneelast zusammengebrochenes Haus. Der Zug stampft durch das verschneite, leere Land. Alles ist in Bewegung: Schnee, Wasser, Luft, Bäume, Wolken, Wind, Städte, Dörfer, Menschen und Gedanken.
Die junge Frau hörte mit dem Kopfhörer Musik und kehrte in die Bolschaja Sadowaja uliza zurück. Dort, im obersten Geschoss des grünen Hauses, hatten sie und Mitka ihren geheimen Ort. Jemand hatte in der Eingangshalle eine schwarze Katze an die Wand gemalt, und im Treppenhaus waren die Wände mit Zitaten aus Bulgakows Roman Der Meister und Margarita vollgeschmiert. Wie oft war sie mit Mitka im Dunkel der Nacht die enge Holztreppe nach oben gestiegen! Im sechsten Stock waren zwei Stufen zerbrochen, und wenn man das nicht wusste, stürzte man direkt in den Tod. Aber sie wussten es und passten auf. Dort im obersten Geschoss, mitten im Gestank von Katzenpisse, hatte sie mit Mitka zum ersten Mal eine Marihuanazigarette geraucht.
Verschämt wechselte der Mann die Unterwäsche. Die schmutzige wickelte er in eine alte Literaturnaja Gazeta und verstaute das Paket in seiner Reisetasche.
Die Reisenden, die in Omsk zugestiegen waren, standen im Gang. Unter ihnen befand sich ein Offizier der Roten Armee mit seiner alten, bis zur Durchsichtigkeit dünnen Haushälterin. Sein Waffenrock saß gut, die Schuhe glänzten, ebenso das aufgedunsene Gesicht. Der Offizier hielt sich gerade und räusperte sich in gleichmäßigen Abständen würdevoll. Der Mann fixierte ihn von der Abteiltür aus.
»Zu Lenins Zeiten gab es in der Sowjetunion keine Offiziere, bloß Kommandanten und Mannschaft. Den Unterschied sah man nur aus der Nähe, an den Abzeichen am Kragen. Diese Zeit liegt lange zurück, heutzutage sitzen Leutnants und Hauptmänner am einen Tisch und Majore und Oberste am anderen. Der da hat die Visage eines Verbrechers. Ist wahrscheinlich ein Schwuler und kratzt der Sowjetmacht am Rücken.«
Der Offizier bekam rote Ohren. Mit einigen festen Schritten trat er vor den Lästerer hin, packte ihn an der Nase und drückte so fest zu, dass der Mann auf sein Bett sank.
»Am nächsten Bahnhof werden alle Rabauken aus dem Zug entfernt«, brüllte der Offizier. »Wenn Sie jünger wären, würde ich Sie zur Erziehung in Teufels Küche schicken.«
Der Mann war verwirrt, weil der Offizier ihn mit seiner Schnelligkeit überrascht hatte.
»Aber nicht doch …«, sagte er, schnellte hoch und schlug mit der Faust nach dem Offizier, doch dieser konnte ausweichen, und die Faust traf den Türrahmen.
Wütend spuckte der Mann über die linke Schulter auf den Gang und zischte. Der Offizier sah ihn an, seufzte tief und ging davon. Arisa kam mit dem Beil in der Hand auf den Gang
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