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Abteil Nr. 6

Abteil Nr. 6

Titel: Abteil Nr. 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Liksom
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Schweißnähten schwer gepfuscht worden. Sobald man entlassen wird, bricht das Gerüst zusammen, sodass nur noch eine Erdschicht von anderthalb Metern hilft.«
    Der Mann lachte so heftig vor sich hin, dass er sich mit dem Hemdsärmel über die feuchten Augen wischen musste. Er kniete sich auf den Boden, holte die zerknüllte Zeitung unter dem Bett hervor, faltete sie sauber zusammen und schob sie unter seine Matratze.
    »Ein anderer Kolja, dessen Wünsche unerfüllt geblieben waren, malte mit weißen Buchstaben die Frage auf ein rotes Schild: Wo bleibt die glückliche Zukunft? Mit diesem Plakat stellte er sich dann auf den Roten Platz. Drei Minuten stand er dort, und schon kam ein Auto der Miliz und nahm Kolja mit. Man brummte ihm fünfundzwanzig Jahre auf – so lange, wie der Militärdienst bei unseren Vorvätern gedauert hatte. Und die Ehrenrechte verlor er für fünf Jahre. Wo bleibt die glückliche Zukunft! Darüber haben sogar die Tauben auf dem Roten Platz gelacht.«
    Die feuerrote Nachmittagssonne machte sich vor dem windgepeitschten Himmel breit. Hinter ihr fielen riesige Schneeregenlappen herab. Die junge Frau kramte in ihrem Rucksack, der Mann deckte den Tisch fürs Abendessen. Sie aßen langsam und schweigend, tranken den Tee, der gut gezogen hatte: schwarzen, indischen Elefanten-Tee, von der jungen Frau im Valuta-Laden erstanden. Nach der Mahlzeit hätte sich der Mann gern unterhalten, aber die junge Frau wollte die Stille bewahren. Da zog der Mann das Messer unter seinem Kopfkissen hervor und fing an, damit hinter seinen Ohren zu schaben. Die junge Frau lag mit geschlossenen Augen da. So fuhren sie durch den ganzen langen, dämmrigen Abend, schliefen ab und zu, wachten wieder auf, jeder für sich. Die junge Frau war mit Mitka in dessen Zimmer. Auf dem kleinen blauen Plattenspieler torkelte eine LP von Jefferson Airplane, Mitka blätterte in einem Lexikon, das Anfang des Jahrhunderts gedruckt worden war, die junge Frau lag auf dem Bett und zeichnete nach einer Vorlage alte ägyptische Schriftzeichen, in der Küche sang Zachar beim Kartoffelschälen eine alte russische Romanze vor sich hin, und im Wohnzimmer unterhielt sich Irina ganz leise mit Julia.
    Allmählich ging die Moorlandschaft in eine gleichmäßig flache Ebene über: verfallene, unter dem Schnee Sibiriens begrabene Sockel von Ruinen, eingestürzte Brunnen, Vogelhäuschen, die an Birken baumelten, Dörfer mit verlassenen Häusern, deren tote Fenster den Zug anstarrten. Ein Kettenfahrzeug der Milchzentrale war in einer Schneewehe stecken geblieben. Übers Feld stapfte ein Pferd, sein Rücken eingesunken wie ein altes Sofa. Es zog einen Heuschlitten hinter sich her, auf dem statt Heu zwei vor Kälte klamme, an den Beinen zusammengebundene Raufußbussarde balancierten.
    »Weißt du, meine kleine Freundin, was heute für ein Tag ist? Heute ist der Tag der Kosmonautik. Also nicht der Tag der Kosmonauten. Und das ist noch nicht alles. Heute ist sowohl der Tag der Kosmonautik als auch der Tag der Himmelfahrt unseres verstorbenen großen Anführers, heute, am 5. April. Wir alle erinnern uns, dass am 5. April 1953, nein, es war am 5. März, das Herz des großen Lokomotivführers des Zuges der Geschichte, Generalissimus Josef Wissarionowitsch Stalin, so schweren Protest anmeldete, dass bereits Stunden später die Begräbnismaschinerie auf Hochtouren lief. Josef Wissarionowitsch war ein so schrecklicher und stählern kluger Mann, dass es einen immer noch schaudert. Jetzt, mein Mädchen, feiern wir Stalins Tod, wenn auch einen Monat zu spät.«
    Er wühlte wie wild in seiner Tasche. Wühlte und beschwichtigte sich selbst.
    »Du wirst sie schon finden, du wirst sie schon finden. Eine Wodkaflasche ist schließlich keine Stecknadel und ein Zugabteil kein Heuhaufen.«
    Er fand die Flasche nicht in der Tasche, sondern am Ende unter der Matratze.
    Großzügig goss er Wodka in beide Teegläser, schob eines davon der jungen Frau hin und erhob das andere.
    »Trinken wir auf die Kosmonautik.«
    Dann füllte er sein Glas erneut.
    »Als Nächstes erheben wir das Glas zu Ehren der herrlichen jungen Frau sowie aller anderen mumienhaften finnischen Frauenfiguren. Auf die Schönheit!«
    Wieder füllte er sein Glas und setzte ein offizielles Sowjetgesicht auf.
    »Erheben wir nun das Glas auf eine umstrittene Persönlichkeit der Weltgeschichte, auf den verstorbenen großen Führer des Sowjetstaates, auf den eisernen Vater, auf den Posträuber von Tiflis, auf den georgischen

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