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Abteil Nr. 6

Abteil Nr. 6

Titel: Abteil Nr. 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Liksom
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damaligen KGB, damit der sich um die Säuberungen kümmerte. Dann kam Zar Peter der Große, der uns zu Europäern machen wollte und in Sklavenarbeit die Stadt Sankt Petersburg erbauen ließ. Euch Finnen zum Gefallen! Er ist euch in den Arsch gekrochen, der Schwächling. Danach kam die deutsche Prinzessin, Katharina die Große. Dieses Weibstück, deren Fotze größer als eine Waschschüssel war, ließ sich von Potjomkin bumsen, der einen Riemen wie eine Aubergine hatte. Die Geschichte Russlands ist kein Triumphzug der Vernunft. Und Nikolaus I.? Bei dem bekam jeder Kerl sicherheitshalber zweihundert Rutenstreiche und tausend Stockhiebe beim Spießrutenlauf. Viele haben diese Hölle nicht überlebt. Wir haben schon immer die edle Kunst der Folter beherrscht.«
    Der Mann legte den Kopf an die kalte Fensterscheibe und schloss die Augen. Einen Moment lang glaubte die junge Frau, er schlafe ein, aber bald öffnete er wieder die Augen. Vor dem Fenster blitzte ein orangefarbener Schnitt im Himmel auf. Der Mann sah die junge Frau geradezu zärtlich an.
    »Es ist Zeit, es ist höchste Zeit, sagte Iwan der Schreckliche und erteilte den Befehl, die Transsibirische Eisenbahn zu bauen. Oder war es Alexander II.? Ohne diese verfluchte Eisenbahn würde ich jetzt mit meiner Süßen im Arm in Moskau liegen. Sie haben sich diese Eisenbahn ausgedacht, um die Ärmsten der Armen zu quälen. Würde sie wenigstens in einem Rutsch durchfahren, aber nein, an jedem verlassenen Bahnhof in jedem erbärmlichen Dorf wird zum Pissen angehalten, und von der Sorte gibt es im großen Sowjetland wahrlich genug. Aber andererseits. Was soll’s. Es könnte schlimmer sein. Zeit haben wir ja.«
    Mit apathischem Gesichtsausdruck erhob er sich vom Bett. Er ächzte, zog sich verschämt dünnere Kleider an, machte ein paar betrunkene Gymnastikübungen, setzte sich auf den Bettrand und richtete den Blick zu Boden.
    »Ich arbeite für die Mongolen und mache mich somit für ein Land nützlich, in dem keiner von unseren Leuten lebt. In der Mongolei fällt kein Schnee, sondern Kies. Dort wachsen keine fetten Wälder wie bei uns, dort gibt es keinen einzigen Pilz und keine Beere. Letztes Jahr gab es bei uns auf der Baustelle einen Vorfall, bei dem sich jeder Kerl in die Hose geschissen hat. Wir hatten einen Genossen, nennen wir ihn Kolja. Das war ein Scheißkerl, aber trotzdem einer von uns. Und dann war da eine Herde von diesen Mongolen, die zur Baustelle kamen und behaupteten, Kolja habe einen von ihnen abgestochen. Wir haben nur gemeint, verzieht euch, ein Russe sticht keinen ab. Als wir am nächsten Morgen zur Baustelle kamen, steckte vor dem Tor ein Holzkreuz falsch rum im Boden. An sich kein Problem, aber an dem Kreuz hing Kolja mit dem Kopf nach unten. Sie hatten ihn gekreuzigt und ihm geschmolzenes Zinn in die Kehle gegossen. So sind sie, unsere Mongolen. Die haben genauso eine schmutzige Seele wie wir, bloß keine so traurige.«
    Der Zug sprang heftig über mehrere Weichen und hielt dann abrupt an. Sie waren in Atschinsk. Arisa rief, der Zug stehe jetzt zwei Stunden. Der Mann wollte das Abteil nicht verlassen, damit sein schöner Rausch nicht an der frischen Luft verflog.
    Die junge Frau sprang auf den Bahnsteig und machte sich auf den Weg in die Stadt, die über den abendlichen Verrichtungen einzuschlafen schien. Auf einem leblosen Boulevard ging sie ins Zentrum. Es fiel schwerer Schneeregen. Die Stadt war düster und gestaltlos, feucht und silbrig grau, zottige Wolken hingen über den bunt gestrichenen Häusern, hin und wieder blitzte zwischen ihnen der weiße Mond hervor. Vor dem Schaufenster eines Gastronom-Geschäfts blieb die junge Frau stehen. Es sah aus wie von Rodtschenko gebaut, die Packungen mit den dünnen Nudeln schossen wie Blitze zum Himmel empor. Auf einmal spürte die junge Frau etwas Warmes am Fuß. Ein kleiner Mischlingshund pisste ihr auf den Schuh.
    Der Hund schaute sie mit seinen Knopfaugen freundlich an, bellte kurz und zeigte seinen goldenen Eckzahn. Dann machte er ein paar Schritte, blieb stehen und starrte sie erneut an. Sie begriff, dass er sie mitnehmen wollte.
    Die Straße, auf der sie gingen, war menschenleer. Die junge Frau hörte das Geräusch ihrer Schritte nicht, obwohl der Schneeregen in Schnee überging, der über den Petrowskije-Boulevard kroch, in eine schmale Nebenstraße abbog und vor einem Brotladen seine Kraft verlor und trocknete. Es wurde kälter. Der Hund blieb vor einem Kellerfenster stehen. Das Fenster ging auf,

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