Abteil Nr. 6
Juden und König der Halsabschneider Josef Wissarionowitsch.«
Er leerte sein Glas, biss ein Stück Schwarzbrot ab und füllte das Glas ein weiteres Mal.
»Jetzt erheben wir wieder das Glas, und erneut steigt es zur Ehren des stählernen Mannes empor. Danke, Josef Wissarionowitsch, dass du die Sowjetunion zu einer starken industriellen Großmacht gemacht und die Hoffnung auf ein besseres Morgen und die stufenweise Linderung der menschlichen Leiden aufrechterhalten hast! Wenn man die Vergangenheit nicht ruhen lässt, geht das leicht ins Auge, und wenn man sie ruhen lässt, geht es in beide … Trinken wir auch auf General Schukow, den König von Berlin! Ohne ihn hätten die Nazis aus Moskau einen beleuchteten künstlichen See gemacht und die ganze Erdkugel von Slawen und anderen unhygienischen Völkern gesäubert, die Finnen eingeschlossen.«
Er leerte sein Glas und ließ noch einen kleinen Schluck hineinrinnen.
»Die Juden haben dem Großen Führer Gift in den Mund geschüttet, und auch wenn ich die Juden hasse, so gebührt ihnen Ehre für diese schöne Geste.«
Er leerte das Glas und warf ein leichtes Grinsen aufs Fenster.
»Ich kann mich an den Todestag dieses Mörders und Muschikenwürgers sehr gut erinnern. Petja und ich waren im dritten Schuljahr. In der fünften Klasse der Grundschule, die erste und vierte gab es nicht. Die Eins war mitten am Schultag eingestürzt, und der Bau der Vier war nicht fertig geworden. Als wir eines Morgens in die Schule kamen, sagte Walentina Saitsewa, der Vater aller Völker sei erkrankt. Allerdings wurde das kindliche Gemüt von dieser Nachricht nicht sonderlich berührt. Am nächsten Morgen berichtete die Lehrerin, der Generalissimus liege bewusstlos auf dem Krankenlager und die Ärzte meinten, es bestehe nur sehr geringe Hoffnung. Na und? Wir spielten weiter. Am dritten Morgen schluchzte die Lehrerin, nun sei der Vater verstorben. Ein besonders heller Kopf fragte, woran denn. Die Lehrerin antwortete, wenn man zu sehr am Leben festhält, setzt irgendwann der Atem aus und der Mensch erstickt … Nach der Schule ging ich mit Petja Arm in Arm nach Hause, die Fabriksirenen heulten wie bei Seenot, manche Männer auf der Straße weinten, andere lächelten. Daheim sah mein Großvater irgendwie sonderbar aus, nackt und fremd. Ich starrte ihn lange an, bis ich begriff, dass sein dichter, südlicher Schnurrbart verschwunden war. Jetzt fängt ein neues Leben an, sagte der Großvater und gab uns Kringel. Er war Mitglied der Partei, und einer seiner Lieblingssätze lautete, zu Stalins Zeiten war dieses Land für Kommunisten der gefährlichste und ungesündeste Ort zum Leben gewesen.«
Der Mann rieb sich eine Weile das Kinn.
»Wahrheiten gibt es Tausende und Abertausende. Jeder hat seine eigene. Wie oft habe ich dieses Land verflucht, aber was wäre ich ohne es? Ich liebe dieses Land.«
Im Abteil lag der scharfe Geruch von Brennöl. Er kam aus dem vollen Wodkaglas, das auf dem Tisch im Takt des Zuges zitterte. Die junge Frau rückte es ein Stück von sich weg. Der Mann folgte dem vibrierenden Glas mit dem Blick.
»Ausländerin! Sie beleidigen mich zutiefst, da Sie nicht mit mir trinken.«
Er biss ein Stück von einer Salzgurke ab und starrte die junge Frau mit bohrender Miene an. Sie zog eine Grimasse und richtete den Blick zu Boden.
»Meine Mutter flößte mir immer Wodka ein, wenn ich krank war. Schon als Säugling habe ich mich an den Wodkageschmack gewöhnt. Ich trinke nicht, weil ich unglücklich bin oder weil ich noch glücklicher sein will, sondern weil die Schlange in mir nach Wodka schreit.«
Ohne einander anzuschauen, saßen sie gedankenverloren da. Die junge Frau dachte an ihren Vater und an den Tag, an dem sie ihm erzählt hatte, sie werde zum Studieren nach Moskau gehen. Er hatte sie lange mit erschrockenem Gesicht angesehen, und dann war ihm eine Träne über die Wange gelaufen. Ihr Vater hatte sich vollkommen betrunken, sich in seinem Lada verschanzt und verlangt, dass er sie zum Bahnhof bringen dürfe.
»Ich habe mir gerade überlegt, ob Gott eigentlich Russe ist. Wenn ja, dann müsste auch Jesus Russe sein, denn er ist ja Gottes Sohn. Und die Maria? Wie rechnet man das? Vor Iwan dem Schrecklichen dürfte es ja eigentlich niemanden gegeben haben. Aber wenn der den Säbel in die Hand nahm, rollten Köpfe. Leute wurden zwangsumgesiedelt, vertrieben und vernichtet. Es ist Gottes Befehl, brüllte Onkel Iwan. Der erklärte alles mit Gott. Der alte Fuchs. Gründete den
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