Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Abteil Nr. 6

Abteil Nr. 6

Titel: Abteil Nr. 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Liksom
Vom Netzwerk:
allen Reisenden die Pässe ein und trugen den leblosen Mann fort. Dann nahmen die Zollbeamten ihr Ritual des Allesdurchwühlens in Angriff. Der gesamte Vorgang dauerte sechseinhalb Stunden. Den Zeichenblock der jungen Frau nahmen die Zöllner mit.
    Kurz bevor der Zug loszuckelte, schleppten die Grenzposten den Mann ins Abteil zurück. Er schnarchte vergnügt, knirschte mit den Zähnen, und der Geifer troff ihm aus dem Mundwinkel aufs Kopfkissen, das von seinen fettigen Haaren dunkel geworden war.
    Der Zug blökte, heulte auf und fuhr fröhlich hoppelnd los. Tschaikowskis sechste Sinfonie walzte aus den beigen Lautsprechern über die Reisenden hinweg wie ein Panzerwagen.
    Die junge Frau stand auf, sammelte die benutzten Teegläser ein, ging auf den Gang und dort weiter zu Arisas und Sonetschkas Abteil. Arisa bat sie, kurz Platz zu nehmen und mit ihr und Sonetschka gemütlich eine Tasse Zitronentee zu trinken.
    Die junge Frau nickte zum Dank, setzte sich auf das harte Bett und schaute auf den Strauß senfgelber Chrysanthemen in der niedrigen Vase. Arisa schnitt mit einem stumpfen Messer eine Zitrone und fing mit angespannter Stimme zu reden an:
    »Im Januar ’34 starb die Frau, die bei der Eisenbahn Bedienstete war, in einem Verschlag unserer Kommunalka. Bevor die Leiche kalt geworden war, kochte der Kessel über. Meine Mutter nahm einen schweren Kampf darum auf, wer den Verschlag bekommen sollte, und bei diesem Ringen wurde keiner verschont. Eines unschuldigen Tages wurde der Streit jedoch entschieden, eine fremde Frau zog in den Verschlag. Meine Mutter beschimpfte sie als Judas, obwohl Nachbarin Njuta sagte, dieser Mensch sei mal eine bedeutende Persönlichkeit gewesen, die Sekretärin eines trotzkistischen Führers. Ich mochte die neue Frau und fragte meine Mutter, ob ich sie besuchen dürfe. Meine Mutter verbot es mir streng und verpasste mir eine ordentliche Ohrfeige, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. Die Frau hieß Tamara Nikolajewna Berg. Mein Vater nannte sie Mara, und mit seiner Erlaubnis durfte ich zu ihr gehen, wenn meine Mutter nicht da war. So lebten wir zwei Jahre, und immer wenn meine Mutter diese Tamara einen unnützen Menschen oder Judas hieß, brachte mein Vater sie zum Schweigen. Dann war die Frau eines Tages nicht mehr da und die Tür ihres Verschlags zugenagelt. Erst nach dem Tod meiner Mutter erzählte mir mein Vater, dass meine Mutter die Frau grundlos denunziert habe – daraufhin wurde sie verhaftet.«
    Arisa schluckte kurz, schwieg eine Weile und spuckte dann wütend in die Ecke.
    »Niemand liebt die Wahrheit.«
    Ohne sich umzublicken, stand die junge Frau auf und ging. Sie spürte eine Beklemmung, die sich allerdings löste, als sie den Mann sah. Sie legte sich auf ihr Bett und ließ die Augen zufallen.
    Sie dachte an Zachar, an Irinas Vater, den Mitka als Mann des Schreckens und der Liebe bezeichnete, einen gut über achtzigjährigen dünnen Mann. Als die junge Frau ihm vorgestellt worden war, hatte er gesagt, am Ende müsse er auf seine alten Tage noch wegen Kosmopolitismus ins Lager. Irina hatte erzählt, für Zachar sei das Jahr ’37 schon im Jahr ’34 gekommen. Damals sei sein Bruder, ein Mitarbeiter der Komintern, verschwunden.
    Mit merkwürdigem Brüllen blieb der Zug mitten auf einer rissigen Asphaltebene stehen. Sie hatten Suche-Bator erreicht, den Grenzbahnhof auf der mongolischen Seite. Die junge Frau trat auf den Gang und lehnte sich ans Geländer. Die Waggontür wurde geöffnet, und nach einem wütenden Windstoß drängte in einer Wolke aus Gleisschottergestank ein Trupp Passmilizen in blauen Uniformen und mit niedlichen Käppis herein. Ihnen folgten die Grenzposten, dann fiel die Tür zu. Die Grenzposten schleiften den Mann auf den Gang. Er öffnete das eine Auge einen Spaltbreit, aber es fiel sofort wieder zu. Sein Hemd war am Rücken feucht.
    Nachdem das Ritual des Allesdurchwühlens beendet worden war, übergab ein Grenzer der jungen Frau mit amüsiertem Lächeln den Zeichenblock, den man auf der sowjetischen Seite konfisziert hatte. Die Schatten der Waggons krochen über den Bahnsteig, über das orange glühende, mit Sand bestreute Glatteis, ein einsames Yak ging am Fenster vorbei, und zurück bleiben die Sowjetunion, die Mineralwasserautomaten (ohne Sirup eine Kopeke, mit Sirup drei Kopeken), die Minibus-Taxis, die Mädchen mit Zöpfen und schwarz-weißen Schulkleidern, das unbekannte Land, seine Flachstellen und Tiefen, die in einer Nacht erbauten Städte, die

Weitere Kostenlose Bücher