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Abteil Nr. 6

Abteil Nr. 6

Titel: Abteil Nr. 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Liksom
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vorbei, dann Urwald, Moor, Fichtenwald, Japanberge hinter dem Horizont, Sake und Haikus. Das ist nicht mehr Chabarowsk. Der Zug fährt. Ein unter der Schneelast eingestürztes Haus, ein Dorf mit zwanzig Holzhäusern zwischen greisen Sträuchern, die golden blinkenden Lichter der Bergwerke. Der Zug taucht in die Natur ein, stampft durch das verschneite, menschenleere Land. Alles ist in Bewegung: der Schnee, das Wasser, die Luft, die Bäume, die Wolken, der Wind, die Städte, die Dörfer, die Menschen und die Gedanken.
    Nach und nach wurde die Musik leiser und verschwand schließlich ganz. Der Mann ging zum Rauchen in den kalten Vorraum des Waggons. Er rauchte seine Zigarette mit schweren Zügen, bis runter auf die Fingernägel. Dichtes Schneegestöber tobte über dem baumlosen Moor. Inmitten der Schneeebene lag vergessen ein kleines, lichtloses Dorf. Nur eine einsame Krähe kämpfte auf einem erkalteten Schornstein gegen das Gestöber. Wieder im Abteil, klappte der Mann das Damebrett auf. Sie spielten schweigend. Der Mann gewann.
    Nach der dritten Partie schnaubte er. »Es gibt kein blöderes Spiel, aber trotzdem …«
    Sie spielten noch sechs lange Partien, so lange, bis beide vollkommen erschöpft waren. Der Mann schlief ein, die junge Frau sehnte sich nach Moskau. Sie dachte an ihre vorige Reise, bei der Mitka und sie bis Kiew mit zwei jungen Männern im Abteil gewesen waren. Der eine hockte während der gesamten Fahrt in sich versunken da. Der andere war technischer Zeichner gewesen, hatte am Planungsinstitut studiert und begeisterte sich für alles, was mit Zahlen, Tabellen, Spalten, Skizzen, Präzisierungen und vor allem mit Kupons zu tun hatte. Die ganze Reise über las er in Fachblättern.
    Als Irina im Alter von siebzehn Jahren mit Mitka schwanger war, schickte Zachar sie zu ihrer Tante in den Kaukasus, in die Berge Lermontows. Dort verliebte sie sich in Galina, eine Studentin, die ihr ähnlich war, und nahm sie bei der Rückkehr mit nach Moskau. Sieben Jahre lang lebten Galina, Irina, Mitka und Zachar mit einigen anderen Verwandten zusammen in einem Haushalt. Dann zog Galina fort. Mitkas Erzählungen zufolge war Irina danach mindestens mit einer Tonja, einer Katja, einer Klasja und einer Julia zusammen gewesen. Als sich die junge Frau und Mitka kennenlernten, verbrachte gerade Julia ihre Nächte in Irinas Schlafzimmer, wohnte aber anderswo. Alles geschah im Geheimen. Die junge Frau redete nicht viel mit Julia, obwohl sie sich oft an der Tür zu Irinas Schlafzimmer oder im Flur begegneten. Mitka hasste die Freundinnen seiner Mutter. Nicht weil sie Frauen waren, sondern weil er seine Mutter für sich alleine haben wollte. So hatte er es selbst ausgedrückt.
    Am türkisen Himmel blinkten nur zwei Sterne, beide weit voneinander weg. Schwere Wolken ballten sich über der Erdoberfläche. Der jungen Frau kroch kalte, kraftlose Verzweiflung in die Brust. Die Freude vergaß man, dachte sie, die Trauer und die Dummheit jedoch nie.
    Ein kleiner gelber Vogel kam aus dem Gebüsch und flog ans Fenster, blickte misstrauisch herein und flattert wieder davon. Ein alter Elektriker hatte einen schiefen Telegrafenmast erklommen. In der einen Hand hielt er eine wirre Drahtrolle, in der anderen einen schwarzen Hörer. Hinter dem Elektriker stieg ein neongelber, anschwellender Nebelwirbel auf, ringelte sich wie eine Schlange zischelnd nach oben und stieg Funken sprühend zum Himmel empor. Ihm folgten eine zweite, eine dritte und eine vierte brennende Nebelwolke. Es waren Polarlichter, die am klaren blauen Himmel blitzten, sie färbten den Schnee grün und den Bürzel der Bergente schwarz. Dann sog die Taiga das Polarlichtermeer auf, und der Himmel wurde leer und rein. Allmählich ging die Taiga in ein Wäldermeer über, das Wäldermeer in ein Feldermeer und das Feldermeer in ein Bruchwaldmeer. Der Mann schlief mit fröhlichem Gesichtsausdruck. Die junge Frau betrachtete ihn lange amüsiert, schlummerte ein, wachte kurz auf und driftete dann erneut in tiefen, todesähnlichen Schlaf ab.
    Der Mann beendete seine morgendliche Gymnastik und füllte ein Glas mit Wodka. Der jungen Frau reichte er ein Glas mit einem Schluck Tee.
    »Wünschen wir uns Leben und Sorgen, unbefangenes Lachen, Weinen ohne Grund, hemmungsloses Vergnügen, milden Kater, ewige Gesundheit und einen zu frühen Tod! Trinken wir auf die weibliche Schönheit in unserem Abteil und auf die Wächter des Unrechts, auf den Abschaum, der zu anderer Arbeit nicht taugt, auf

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