Abteil Nr. 6
die Landstraßen in jenem Land, in dem die junge Frau aufgewachsen war. Schlamm und Schlick, Schlagloch neben Schlagloch. Immer wenn eine große Pfütze kam, gab der Fahrer Gas und bretterte mitten hindurch, sodass der Matsch in hohem Bogen auf Fußgänger und diverse Pferdewagen spritzte.
Vom Bahnhof zum Hotel waren es nur wenige Kilometer, aber die Fahrt dauerte über eine Stunde. Auf jede Beschleunigung folgte eine harte Bremsung, und danach ging es im Schneckentempo von zehn Stundenkilometern weiter. Zwischendurch hielt der Fahrer an, stieg aus, öffnete die Motorhaube, fluchte und holte einen schwarzen Stahlkanister aus dem Kofferraum, mit dem er offenbar Wasser in den Kühler füllte.
Das Hotel sah aus wie jedes andere Hotel für Westtouristen in jeder beliebigen namenlosen Sowjetstadt. Im Foyer gab es einen Tresen, einen kleinen runden Tisch vor den hohen Fenstern und eine mit Kunststoff überzogene Couch für drei Personen. Die Mitte des Raums nahmen Backsteine, ein Betonmischer, Mörtelsäcke und Bretter ein. Überall schwebte grauer Baustellenstaub in der Luft.
Der Reiseführer klärte mit einer Hotelangestellten die Papierangelegenheiten, und die junge Frau wartete. Schließlich bat der Reiseführer sie, ihm zu folgen. Sie stiegen die Treppe zum obersten Stockwerk hinauf. Der Reiseführer öffnete eine erbärmlich wimmernde, schwere Tür, und vor der jungen Frau tat sich eine riesige, im Sowjetstil renovierte Suite auf. Das Fenster bot eine großartige Aussicht über die Stadt hinaus bis zur Wüste Gobi, über deren Sandhügel der Frühjahrssturm schrie. Die Suite hatte zwei Zimmer. Im Wohnzimmer standen eine schlichte, elegante, eventuell in der DDR hergestellte Polstergarnitur, massiv gebaute Stühle mit Krakowa-Stempeln auf den Armlehnen und Blumenvasen auf den Tischen. Im Schlafzimmer ruhte ein großes Bett. Von da aus sah man auf eine protzige Kopie des Gemäldes von Repin, das Iwan den Schrecklichen als Mörder seines Sohnes zeigte. In Iwans Augen schimmerte der Wahnsinn, sein Sohn sah aus wie ein Glanzbildjesus.
An der Decke des geräumigen Bades flackerte eine gelbliche Lichtröhre. Die Badewanne hatte die volle Länge, aber der Stöpsel war abgerissen. Die Dusche funktionierte, aus beiden Hähnen kam belebendes kaltes Wasser.
Lange betrachtete die junge Frau die Stadtlandschaft vor dem Wohnzimmerfenster. Links standen zwei dreizehnstöckige Häuser, rechts lag eine Jurtensiedlung und dazwischen ein merkwürdiger Komplex, der an Städte im Wilden Westen erinnerte. Das schräge Licht der bleichroten Sonne brannte auf einem der Sessel.
Im Kopf der jungen Frau galoppierten die Gedanken unangenehm im Kreis. Der Tag endete mit einem beängstigenden Sonnenuntergang, der schleichend in den Abend überging, dann beleuchtete der Mondschein die dunklen Jurtendörfer. Diese Landschaft, an deren Horizont das Wüstenmeer begann, war schön, öd und schauerlich zugleich. Die junge Frau wickelte sich in die Daunendecke. Sie dachte an Moskau, daran, wie sie gegen Ende des Herbstes mit Irina ein Picknick im Englischen Garten gemacht hatte, wie sie eine Bank fanden, auf deren feuchter Oberfläche gelbe Ahornblätter klebten und die Irina als Turgenjew-Bank bezeichnete.
Nun blinkte die Stadt mit matten Lichtern. Sie vermischten sich mit dem Dämmer der heranschleichenden Nacht und verschwanden schließlich in ihrem Schwarz. Deprimierend bereifte Finsternis presste die Stadt zusammen, machte sie klein und lautlos. Die junge Frau beschloss, am nächsten Tag die Nummer anzurufen, die ihr Irina mitgegeben hatte.
Kurz nach acht am nächsten Morgen klopfte es kultiviert an der Tür der jungen Frau. Draußen stand der Reiseführer. Sie gingen zusammen in den Speisesaal. Die junge Frau nahm ein sowjetisches Frühstück zu sich, der Reiseführer ein mongolisches, zu dem Milchtee, nach Schaf riechende Kekse und Maisbällchen gehörten. Es war der jungen Frau angenehm, so zu sitzen, einem anderen Menschen gegenüber. Sie erzählte ihrem Reiseführer, sie sei nach Ulan-Bator gekommen, um eine bestimmte Felsinschrift zu sehen, die sich an der südlich aus der Stadt hinausführenden Straße befand. Der Reiseführer sah sie mit finsterer Miene an.
»Westler dürfen die Stadt nicht verlassen.«
Die junge Frau bot ihm Dollars an.
»Sie kommen hierher und tun so, als könnten Sie mit Geld alles kaufen. Unsere heiligen Stätten sind nicht zu verkaufen. Ich habe ein offizielles Tagesprogramm für Sie erstellt. Wir werden
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