Abteil Nr. 6
den Betrug, damit wir in eine bessere Richtung betrogen werden. Es lebe die Miliz!«
Mit einer einzigen Handbewegung kippte er sich die ganze Ladung in die Kehle, dann biss er ein Stück Zwiebel ab und füllte das Glas erneut.
»Jetzt ist Schluss mit Trinksprüchen und Spielerei, jetzt wird gesoffen! Einen Waggon Wodka, bitte!«
Das Glas wurde geleert und sofort wieder gefüllt.
»Katjuscha, das kleine Dummerchen, konnte mich nicht ertragen, und darum verliebte ich mich in sie. Aber eines sage ich dir: Es gibt auf der Welt kein größeres Durcheinander als den weiblichen Verstand.«
Über dem baumlosen Moor tobte dichtes Schneegestöber. Scheues Morgenlicht wollte sich zwischen die grauen Wolken drängen, jedoch ohne Erfolg.
»Herz und Verstand. Das ist es, alles … Ich trinke jetzt den einen oder anderen Schluck, und dann unterhalten wir uns.«
Er nahm das Messer in die Hand und schabte damit über den Ellenbogen. Seine Augen glänzten, als hätte er gerade geweint.
»Es lebte einmal an der Wolga oder am Jenissei, irgendwo in der Gegend, ein Junge mit seiner Mutter und seinem Vater. Der Junge hörte, wie der Vater zur Mutter sagte, entscheide dich, ich oder der Junge. Darauf die Mutter, sei unbesorgt, der stirbt bald, und dann sind wir zu zweit. Am nächsten Morgen verabschiedete sich der Junge von seinem dreibeinigen Hund und kam nie mehr zurück. Er gesellte sich zu seinesgleichen, lebte fortan auf der Straße und verkaufte sich für Brot. Er flüsterte den Männern ins Ohr, ich bin ein kleiner Junge aus Odessa …«
Eine Stunde später machte der Mann die nächste Flasche auf. Dann die dritte, die letzte; er füllte das Glas, trank es aber nicht leer, sondern nahm nur einen Mundvoll und gurgelte. Die leere Flasche stellte er unter den Tisch.
»Ich lob dich nicht umsonst. Darum sage ich Ihnen direkt, liebe Reisegefährtin, dass Sie mich wenigstens einmal ranlassen sollten. Davon nutzt du dich untenrum nicht ab.«
Ein schüchternes Lächeln lief über sein Gesicht. Die junge Frau setzte sich am Bettrand auf. Der verschneite Waldozean füllte uferlos die ganze Landschaft aus. Bis zum Horizont liefen die Wälderwellen, in Täler hinab, auf Hügel hinauf. Zwischen den Hängen schlängelte sich ein kleiner Fluss, an dessen eisfreien Tiefstellen dickes rotes Wasser strömte. Der Mann versetzte der jungen Frau einen hochmütigen, intelligenten Blick.
»Lass mich wenigstens ein bisschen …«
Sie schaute ihm direkt in die Augen. Er ließ den Blick auf seine Hände sinken und erstarrte in Gedanken. Das aufgeregte Seufzen der Lokomotive drang bis ins Abteil.
»Dort bumste ich Wimma, und alles lief wie am Schnürchen. Das war ein Leben! Aber dann kam es, dass man mir Geld anbot. Lebensmittel kann man leicht ablehnen, aber Geld nicht. Es gab Unstimmigkeiten mit Wimma, und ich verpasste ihr sechs Stiche mit diesem sibirischen Messer. Ich versuchte, ihr Herz zu treffen, aber anscheinend wurde sie von Gott beschützt, denn sie spazierte aus unserer Wohnung heraus und zur Nachbartür hinein. Dort verschwand sie wie die Mütze im Ärmel. Jahre später hörte ich von einem Kartenkumpel, dass Wimma angeblich in einem Lager in Karabaschi als Braut gesehen worden war. Dort soll sie eine Lesbenhochzeit gefeiert haben und gesungen, dass sie nie mehr Zivilistin werden würde.
Glaub nicht alles, was ich dir eintrichtere, mein Mädchen!«
Er verstummte abrupt und schwieg lange, schmatzte mit den trockenen Lippen und schniefte.
»Die russischen Nutten kapieren gar nichts. Von denen kriegt man nur die Syphilis. Die heruntergekommene Schönheit der alten Huren – auf die spricht mein Schwanz an.«
Er griff sich in den Schritt. Offene Lust erweichte sein Gesicht.
»Einmal nur. Das macht das Leben schöner und heller. So war es bis jetzt immer.«
Das Abendrot brannte aus, der Tag ging zu Ende.
»Machen wir es wie die Sowjethuren mit Anschreiben oder wie nach eurem Muster gegen glatte Scheine? Ist dir Geld nicht recht? Dann nicht. Wenn die Lust weg ist, helfen auch keine Rubel. Du kommst schließlich aus einem reichen Land und wischst dir mit meinen Rubeln bloß die Fotze ab.«
Er starrte die junge Frau mit leicht zur Seite geneigtem Kopf an wie ein gedemütigtes Kind.
»Hundertfünfundzwanzig, Euer Gnaden. Ist das genug? Ich möchte sehen, wie sich eine finnische Fotze von einer russischen unterscheidet. Oder muss man bei dem Fräulein das Wort Muschi benutzen?«
Er schwieg eine Weile, dann kniff er die Augen zusammen
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