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Abteil Nr. 6

Abteil Nr. 6

Titel: Abteil Nr. 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Liksom
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Grabstein.«
    Der Mann röchelte und wimmerte mit gequälter Miene. Für einen Moment streckte er den Rücken gerade und starrte die junge Frau an, dann sank er wieder in sich zusammen. Sein Gesicht war sehr alt und müde. Schläfrig und verächtlich blickte er auf die junge Frau.
    »Wo ist die Wodkaflasche? Gebt mir Wodka!«
    Arisa schaute ihn amüsiert an und sagte mütterlich:
    »Schnauze halten und schlafen!«
    Der Mann versank in unruhigen Schlaf. Sein Hemd stand offen, und seine verschwitzte, haarige Brust glänzte im matten Licht der frühen Morgenstunde.

Das graue Licht des traurigen Morgens schwebte ins Abteil und erleuchtete das matte Gesicht des Mannes, während böiger Wind den Zug peitschte. Die leeren Teegläser starrten den Schlafenden an, und die junge Frau schaute aus dem Fenster auf eine vollkommen neue Landschaft. Hinter den Notenlinien der Telegrafendrähte sah sie im Dämmerschein der Morgensonne die erste hundertköpfige bunte Pferdeherde, sie sah Tausende Fettbürzelschafe mit schwarzem Fleck auf der Stirn und dachte an Mitka und an den Tag im Juli, als sie aus dem Sommerurlaub in Finnland zurückgekommen war und Mitka sie am Bahnhof abgeholt hatte. Sie dachte daran, wie sie zuerst ins Wohnheim gegangen und Hand in Hand die neun Stockwerke nach oben gerannt waren, wie der Gang des Wohnheims bis zu den Knien voller dauniger Löwenzahnfrüchte gewesen war, wie sie wie Kinder auf dem Gang hin und her gerannt waren und wie der Löwenzahnflaum durch die offenen Fenster herein- und hinausgeschwebt war.
    Auf der Höhe eines unmittelbar neben der Strecke errichteten Jurtendorfs drosselte der Zug das Tempo und glitt wenig später auf ein Nebengleis, um den Weg für eine Güterzugkolonne frei zu machen. Die junge Frau betrachtete die Jurten durch das graue Abteilfenster. Es waren fünf, und sie waren um eine freie Fläche herum aufgebaut worden, wo man einen alten hölzernen Kinderwagen sah. Daneben stand eine Frau im traditionellen roten monogolischen Kleid und hielt ein kleines Kind auf dem Arm. Auf dem Kopf trug sie ein Tuch mit gelben Blumen. Sie winkte dem Zug, ein kleiner Junge hinter ihr kämpfte sich auf den Rücken eines Fohlens mit dünnen Beinen.
    Der Mann bewegte sich. Unruhig wälzte er sich in seinem Bett hin und her, als wollte er unschöne Erinnerungen abschütteln, schließlich blieb er mit dem Rücken zu der jungen Frau liegen. Eine Tätowierung bedeckte seinen Rücken: in der Mitte die Jungfrau Maria mit dem Jesuskind auf dem Arm, unterhalb der einen Schulter ein Tempel mit Zwiebelturm und Stern.

Noch vor acht Uhr am Morgen spuckte der Zug die Reisenden am sowjetisch anmutenden Bahnhof von Ulan-Bator aus. Mit Sand durchsetzter Schneeregen, Schmutz und Schnee schlugen gegen das Fenster. Die junge Frau versuchte, den Mann zu wecken. In der Abteiltür stand ein mongolischer Reiseführer. Es war ein kleiner, zierlich gebauter, schöner, empört wirkender, grantiger Mann.
    »Wollen Sie nach Ulan-Bator? Ist für Sie ein Zimmer im Hotel Intourist reserviert? Warum sind Sie dann immer noch im Zug? Sammeln Sie Ihre Sachen ein und folgen Sie mir!«
    Um die Wirkung seiner Worte zu verstärken, schnappte er sich den Koffer der jungen Frau und ging. Der Mann blieb schnarchend auf dem Bett liegen.
    Die junge Frau folgte dem Reiseführer in die Bahnhofshalle. Dort herrschte verschlafene Stille. Unfreundliche Schmiere blieb an den Schuhsohlen kleben. Der Boden war mit Essensresten, Papierabfall, Speichelklumpen, Hunde- und Vogelscheiße übersät; der stechende Gestank drang bis unter die Haut.
    Sie gingen zum Taxistand auf der Paradeseite des Bahnhofsgebäudes. Es stand kein einziges Fahrzeug da. Der Reiseführer blickte wütend auf die russische Uhr an seinem Handgelenk und starrte dann unverwandt in Richtung Stadt. Der langsame, schräg fallende Schnee ging in Schneeregen über. Sandige Lappen plumpsten wie Steine in den Matsch. Alles sah grau, schlaff und irgendwie versiegt aus, über allem lag der Schlammgeruch der feuchten Erde.
    Dann kam ein Taxi, eines mit einem kleinen Reh auf der Kühlerhaube. Der Reiseführer setzte sich nach vorne, die junge Frau nahm auf der geräumigen Rückbank Platz. Der Fahrer, ein dicker Mann mittleren Alters, trug einen Wintermantel russischer Art, zwischen den Lippen hatte er eine erloschene Belomorkanal-Papyrossi fünfter Klasse hängen, sein Gesicht war holprig und vernarbt. Im Auto roch es nach Benzin und altem Schafsfett.
    Die Landstraße sah aus wie früher

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