Acacia 01 - Macht und Verrat
Betrachters narrten, wenn man sie länger anstarrte.
Vor den reglos dastehenden Offizieren und dem Kanzler marschierten die besten jungen Soldaten der Insel in der makellosen Schlachtordnung eines Infanteriebataillons ins Stadion ein. Sie bewegten sich nach den Signalen einer Flöte, eines eigentümlich melancholischen Instruments, das jedoch weithin hörbar war. Einige wenige hatten die Ehre, in der folgenden Stunde vor den Augen des Publikums zu kämpfen. Anschließend gab der Großteil der fünfhundert Soldaten eine kunstvolle Aufführung der Neunten Figur zum Besten, mit deren Hilfe Haden und die Waldbewohner Tinhadins Braut vor dem Senivalischen Verrat gerettet hatten. Anschließend inspirierten ihre Anführer sie mit Reden über die ruhmreiche Vergangenheit und die vor ihnen liegenden Herausforderungen.
Später sprach der Kanzler zu ihnen. Thaddeus rieb sich das Stoppelkinn und überlegte eine Weile. Ohne die prächtigen Gewänder und die Schulterschärpe, das Zeichen seines Amtes, hätte man in diesem Mann mit dem hageren Gesicht, in das sich tiefe Falten eingegraben hatten, kaum den Kanzler vermutet. »Ich habe heute etwas erfahren, das ich euch mitteilen möchte«, sagte er. »So ist es mir lieber, mitten unter euch, Auge in Auge und einander zum Greifen nahe.« Er hob die Hand; jetzt erst bemerkte Aliver, dass er eine Schriftrolle hielt. Der Kanzler wendete sie hin und her und zeigte sie allen Soldaten, als könnten sie den Inhalt von dort aus lesen, wo sie standen. »Dies ist eine Kriegserklärung von Hanish Mein, Sohn des Heberen. Er bekundet darin seinen Hass auf uns und erklärt sich zum Häuptling der kommenden Welt. Damit haben alle Mutmaßungen ein Ende. Wir wissen, gegen wen wir kämpfen und warum. Wir wissen, dass er alles zerstören will, wofür Acacia steht. Er glaubt, er besäße die Macht, sein Ziel zu erreichen, und aus diesem Grund hat er eine Reihe feiger Meuchelmorde verübt. Das ist der Kampf, der uns bevorsteht. Dies ist die Widerwärtigkeit, die dieses knappe Dokument enthält.«
Thaddeus sah aus, als wollte er die Schriftrolle von sich schleudern. Soldaten und Offiziere schwiegen, sie alle erwarteten, dass der Kanzler noch etwas hinzuzufügen hatte. Thaddeus stand da, er fuhr weder fort, noch wandte er sich ab und suchte ungeachtet der vielen Zuschauer auch niemandes Blick. Aliver begriff, dass er hören konnte, wie sich die Wogen an der Sperrwand am Fuße des Stadions brachen. Er zählte eine und dann eine zweite und dritte, erstaunt darüber, dass ihm das Geräusch bisher nicht aufgefallen war, und verblüfft über die Innigkeit, mit der das Meer das Land berührte. Er konnte es durch seine Fußsohlen hindurch spüren. Es war auch in der Luft; jeder Widerhall wurde auf ihn übertragen, als fiele ein unsichtbarer, kristalliner Gischtregen auf seine Schultern und sein Gesicht. Es gab eine ganze Welt jenseits dessen, was er gegenwärtig vor sich sah, und all das drohte jeden Augenblick unangekündigt einzutreffen.
Thaddeus hob den Kopf und schien die Gesichter um ihn herum erneut wahrzunehmen. Er ließ den Blick über sie hinwegschweifen und sah kurz auch Aliver an. »Mein Vorschlag«, sagte er, »lautet, dass wir alle hier und heute lernen, das Chaos zu lieben. Betrachten wir alle Tumult als einen Teil unseres Lebens. So wie die Sonne, die über den Himmel wandert; so wie den Wind, der über den Erdboden streicht; so wie die Nacht, die unweigerlich auf den Tag folgt... So werden alle unter uns leiden; anders kann es nicht sein. Nehmt dies heute an, und ihr werdet besser für morgen gerüstet sein. Gerade habt ihr die Neunte Figur vorgeführt. Wie ihr alle wisst, gibt es insgesamt nur zehn Figuren. Es gibt jedoch keinen Grund, weshalb es nicht eines Tages eine elfte geben kann. Bedenkt auch dies, wenn ihr in den Kampf zieht.« Er wandte sich zum Gehen, besann sich aber und fügte noch hinzu: »Und seid auf Überraschungen gefasst. Die Welt ist anders, als ihr meint. Es könnte sein, dass ihr glaubt, wir hätten euch schlecht darauf vorbereitet.«
An dem Tag, als sie die letzten Anweisungen vor Kriegsbeginn entgegennehmen sollten, begegnete Aliver auf den oberen Terrassen Melio und Hephron. Der Prinz nickte beiden zu, verwundert darüber, dass Hephrons Anwesenheit ihm nicht unangenehm war. Sie hatte etwas Tröstliches. Noch vor wenigen Tagen hatte er Hephron von ganzem Herzen verabscheut. Er hatte einen Feind in ihm gesehen. Nichts davon kam ihm jetzt in den Sinn. Hephron hatte schon
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