Acacia 01 - Macht und Verrat
Leodans Halbschwester Katrina und vierzehn weitere Personen, die von Geburt an den Namen Akaran trugen, sowie andere, die ihn durch Heirat erworben hatten, wurden am helllichten Tag auf dem Kai überfallen. Als Hafenarbeiter verkleidete Männer fielen über sie her, als sie an Bord gingen, und machten sie mit Kurzschwertern nieder, die sie unter ihren Kleidern verborgen hatten.
Niemand wusste, wie es möglich gewesen war, dermaßen umfassende Verschwörungen geheim zu halten und mit solch tödlicher Präzision durchzuführen. Aus Gerüchten und dem allgemeinen Gemunkel wurde der Glaube geboren, viele der Meuchelmörder seien Hausangestellte gewesen, Gärtner und Arbeiter, die zum Teil schon jahrelang in Diensten gestanden hatten, ohne jemals Anzeichen von Heimtücke gezeigt zu haben. Eine andere Geschichte besagte, eine Kriegsflotte werde über das Eis des Mein nach Süden geschleppt. Pelzjäger hätten sie in der Nähe der Eisfinger des Ask gesehen, doch niemand wusste zu sagen, wie es diesen einfachen Leuten gelungen sein sollte, aus dieser Einöde eine Nachricht zu übermitteln, oder konnte allein der Vorstellung, die dabei angedeutet wurde, viel Sinn entnehmen. Einige Leute meinten, Rialus Neptos – der nach dem Massaker an den alecischen Würdenträgern verschwunden war – habe eine Rolle bei dem Aufstand gespielt. Wiederum andere behaupteten, sämtliche Vertreter der Gilde seien ohne ein Wort in See gestochen.
Aliver bemühte sich verzweifelt, das Geschehen zu begreifen und die einzelnen Bruchstücke zu einem zusammenhängenden Ganzen zusammenzufügen, dem man Herr werden konnte, doch Momente der Ruhe waren selten und beunruhigend kurz. Die Tage der Marah-Ausbildung lagen jetzt hinter ihm. Seine Offiziere sprachen mit den jungen Männern, die noch vor wenigen Tagen ihre Schüler gewesen waren, als hätten sie in ihren Augen plötzlich an Statur gewonnen. Offenbar waren sie alle auf einen Schlag befördert worden. Sie äußerten sich mit einer Offenheit über die bevorstehenden Prüfungen, die Aliver nicht erwartet hatte und die ihm nicht behagte. Männer, die sich noch vor wenigen Tagen in ihrer Rolle wohl gefühlt waren, wirkten jetzt verunsichert und nervös, wenn sie Befehle erteilten. Die Zukunft, die vor ihnen lag, so erklärten sie, halte Schwerwiegenderes bereit als die Schmerzen der Ausbildung, die Schmach der Niederlage bei Wettbewerben oder gar gesellschaftliche Ächtung, die am meisten gefürchtete Folge eines charakterlichen Versagens. All diese Gefahren hätten sie in der Vergangenheit gemeistert. Jetzt jedoch sollten sie wahrhaftig um ihr Leben kämpfen. Schon bald würde man von ihm erwarten, dass er tötete. Allein der Gedanke daran stellte seine bisherige Einstellung zu seiner gesamten Ausbildung völlig auf den Kopf. Hatte er das Zeug zum Töten? Es schien kaum möglich. Könnte es sein, dass er sein Volk schon bei der ersten Prüfung enttäuschen würde? Noch nie zuvor hatte er etwas so sehr gefürchtet wie diese Möglichkeit.
Zu allem Überfluss wusste er nicht, was wirklich von ihm erwartet werden würde. Seine Stellung unter seinen Kameraden war heikler denn je. Einerseits fürchtete er, man werde es ihm ersparen, Verantwortung in der Schlacht zu übernehmen, so wie man ihn bei der Ausbildung stets von den anderen getrennt hatte. Andererseits zogen die Offiziere die traditionellen Figuren immer wieder als Beispiele von Heldenmut in der Schlacht heran, und in den meisten Fällen war es ein Mann königlicher Abstammung gewesen, der das Schwert, den Speer oder die Streitaxt geschwungen hatte. Erwartete man von ihm, dass er in diese legendären Fußstapfen trat und sie alle zum Sieg führte? Er wusste es nicht, und niemand – nicht einmal Thaddeus – klärte ihn auf.
Wenige Tage bevor die jungen Soldaten erfuhren, wo sie eingesetzt werden würden und aufbrachen, erschien der Kanzler Thaddeus Clegg, um sich ein Bild von den Truppen zu machen. Die Parade fand in dem Stadion statt, das den Namen der Gemahlin des siebten Königs trug: Carmelia. Es lag auf einer flachen Landzunge, die wie ein halb untergetauchter Fuß ins Meer hinausragte, tiefer gelegen als der Palast, jedoch etwas höher als die Unterstadt. Das Carmelia-Stadion glich einer in den Fels gegrabenen großen Schüssel und bot tausenden Zuschauern Platz, die in steinernen Sitzmulden saßen. Die gewaltige Arena war nach oben offen, und der steinharte Erdboden wurde regelmäßig in kreisförmigen Mustern geharkt, die das Auge des
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