Acacia 01 - Macht und Verrat
stimmte der Angriffswinkel.
Obwohl er aus vollem Halse brüllte, war er sich nicht sicher, dass man ihn unten an Deck hören konnte. Wahrscheinlich wurde er vom peitschenden Wind und der vom Bug aufstiebenden Gischt übertönt. Da er fürchtete, sein Steuermann könnte aus Vorsicht den Kurs ändern, packte Sprotte das Tau, das vom Ausguck bis aufs Deck hinunterhing. Er trug die fingerlosen Handschuhe, die er in seiner Jugend zu diesem Zweck zurechtgeschnitten hatte, in den ersten Jahren auf See. Mit beiden Händen umklammerte er das Tau, verschränkte die Finger miteinander und sprang ins Leere. Mit seinem üblichen schwindelerregenden Tempo sauste er abwärts und stand im nächsten Moment neben Nineas.
»Dass du mir ja auf Kurs bleibst!«, schrie er dem Steuermann ins Ohr. »Genau auf sie draufhalten.« Dann hob er die Stimme noch mehr und wandte sich an die Besatzung, die sich an Deck drängte, stämmige Seeräuber aus allen erdenklichen Ländern, jeder mit seinen eigenen Neigungen und den Waffen seiner Wahl, jeder mit seinem eigenen Groll, eigenen Wünschen und eigenen Gründen, ein Räuberleben gewählt zu haben. Schlank, mittelgroß und nicht übermäßig muskulös sah Sprotte mit seinem hübschen, jungenhaften Gesicht kaum wie ein Mann aus, der diese Bande anzuführen vermochte. Und doch fühlte er sich sichtlich wohl in seiner Rolle. Mit ironischer Herzlichkeit sagte er: »Alles wie besprochen, meine Herren. Alles wie geplant, und nichts passiert, bevor ich den Befehl gebe.«
Vor dem mächtigen Bug des Zweimasters wirkte die Ballan winzig. Die Brigg teilte das Wasser wie ein dralles Schankmädchen ein Meer von Betrunkenen. Sie war so strahlend weiß, dass man meinen konnte, sie wäre gar nicht aus Holz gemacht. An beiden Seiten des Schiffsrumpfes waren in zwei Reihen angeordnete Drahtkörbe angebracht, eine Reihe am Oberdeck, eine am Unterdeck. Ein Korb war gerade groß genug, um den Oberkörper eines Mannes aufzunehmen, der sich aufs Wasser hinauslehnte. Armbrustschützen bemannten die Körbe und schossen eine Bolzensalve ab. In Anbetracht dessen, wozu eine voll bemannte Gildenbrigg in der Lage war, war das eine schwache Verteidigung. Auf einem angemessen ausgerüsteten Zweimaster hätte es zwei- bis dreimal so viele Armbrustschützen gegeben. Allerdings waren die Geschosse mit brennbarem Pech beschmiert. Beim Abschuss entzündete sich das Pech. Die Bolzen, welche den Rumpf, das Deck oder das Segel trafen, brannten mit unlöschbarer Flamme. Das Beste, was Sprottes Männer tun konnten, war, die Bolzen mit Schaufeln herauszuschlagen und sie und das Pech über Bord zu werfen. Mit diesem Angriff hatten sie gerechnet.
Die beiden Schiffe befanden sich nach wie vor auf Kollisionskurs. Inzwischen waren sie einander so nahe gekommen, dass die Geschwindigkeit der Ballan ausgesprochen waghalsig und leichtsinnig wirkte. Sprotte hätte fast befohlen, die Beisegel einzuholen, doch dafür war es zu spät. Außerdem war eines der Segel von einem Bolzen getroffen worden, und die Flammen hatten bereits ein ziemlich großes Loch hineingefressen. Stattdessen schrie er den Männern, die den Nagel bedienten, zu: »Fertig machen! Wartet auf meinen Befehl!« Während er zusah, wie die Entfernung zwischen den beiden Schiffen rasend schnell schrumpfte, setzte er hinzu: »Achtung, Männer! Festhalten!«
Um die Wucht des Zusammenpralls zu dämpfen, befahl er im letzten Moment eine Wende. Die Ballan schwenkte folgsam herum, dennoch erfolgte der Zusammenstoß mit einer Wucht, die jenseits der Vorstellungskraft des jungen Mannes lag. Das Getöse war grauenhaft, genau wie der Ruck des Aufpralls. Männer wurden umhergeschleudert, während sich der Klipper gefährlich neigte. Eine Wasserwand wurde emporgeschleudert, die übers Deck rauschte und zwei Männer mit sich riss. Die kleinen Pechfeuer zischten, dann flammten sie erneut auf. Sprotte war es gelungen, den Befehl zum Ausbringen des Nagels zu geben, bevor er auf dem Rücken übers Deck schlitterte. Der große Arm kippte recht langsam, wurde von seinem Eigengewicht abwärtsgezogen. Von der Reling aus schaute der durchnässte und keuchende Sprotte ohnmächtig zu. Er war sich sicher, dass der Mechanismus irgendwie verklemmt war. Das Ding senkte sich zu langsam. Vielleicht würde es nicht einmal das Holz des anderen Schiffes durchschlagen.
Doch die Waffe legte an Gewicht und Geschwindigkeit zu. Die stählerne Spitze bohrte sich durch das Deck des gegnerischen Schiffes. Die mehrgliedrige
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