Acacia 01 - Macht und Verrat
Schicksal überlassen, doch was sei ihm anderes übrig geblieben?
Val hatte nie genau beschrieben, was er mit dem Beschützer angestellt hatte, er murmelte nur, der Mann werde für den Rest seines Lebens nichts Härteres essen können als Ziegenkäse. Der Junge konnte sich keinen Reim darauf machen, doch die bildliche Vorstellung, die Vals Worte heraufbeschwor, beschäftigte ihn einen großen Teil des beschwerlichen Weges. Val hatte gemeint, er kenne genau den richtigen Ort für sie, großartig und grenzenlos, ein Gebiet, in dem man verschwinden könne. Den Großteil des Weges ritt Dariel auf seinen Schultern, die Finger in Vals lockigen, dichten Haarschopf gekrallt.
Nach drei Tagen ließen sie das Gebirge hinter sich, und am vierten Tag roch Dariel Salz in der Luft. Am Nachmittag, als er schon fast eingeschlafen war, sagte Val: »Schau, mein Junge. Das da ist nicht nur ein Meer. Das ist ein Ort, wo sich ein ganzes Volk verstecken könnte.«
Sie standen auf einer Felsklippe und hatten nach Westen hin freie Sicht auf die ganze Welt. Obwohl Dariel sein ganzes Leben auf einer Insel verbracht hatte, sah er auf den ersten Blick, dass dieses Gewässer anders war. Es war weder türkisblau noch meergrün, wie er es gewöhnt war. Stattdessen war das Wasser schiefergrau, fast schwarz, und das langsame Auf und Ab der Dünung ließ erkennen, welche Gewalt die Meereswogen hatten. Vor der Küste türmten sich zahllose Wellen wie flüssige Berge auf, verharrten einen Moment in der Schwebe und brachen sich dann in einem schäumenden Chaos. Hin und wieder drang das Tosen der Brandung an sein Ohr, jedoch stets in einem seltsamen Takt, sodass er Gesehenes und Gehörtes nicht in Einklang bringen konnte. Dariel, der von den Schultern des Hünen aus darauf starrte, hatte noch nie etwas so Gewaltiges und Großes gesehen.
»Das ist die Zunge der Grauen Hänge«, sagte Val. »Ein grenzenloser Ozean. Hier wirst du aus der Welt deines Vaters verschwinden und stattdessen in meiner wieder auftauchen.«
Dariel hatte darauf nichts erwidert. Seit Wochen schwebte eine vage Furcht über ihm, so allgegenwärtig wie der Himmel. Ein Teil von ihm hatte niemals geglaubt, dass er ohne seine Familie weiterleben könnte. Er würde ohne sie verschwinden. Die Welt würde ihn verschlucken. Die Finger des Schöpfers würden ihn vom Erdboden pflücken und ins Nichts schleudern. Er fürchtete, dass er nicht mehr Substanz hatte als eine Flamme und genauso leicht auszulöschen sei. Doch hier war er jetzt. Die Welt nahm ihren Gang wie immer, und er war immer noch ein Teil von ihr. Er lebte weiter; in seinem Inneren gab es etwas, das ebenso fest und wirklich war wie der Rest der Welt. Ich kann tatsächlich aus einer Welt verschwinden und in eine andere eintauchen, dachte er. Verschwinden und wieder auftauchen …
Und genau das hatte er getan. Val schenkte ihm ein neues Leben und einen neuen Namen und nahm selbst einen neuen Namen an. Er erklärte ihm, dass die Geschichten von seinem blutigen Piratenleben keineswegs erfunden gewesen seien, wie der Junge geglaubt hatte. Val – oder Dovian, eine Abkürzung des Namens, den sein Heimatland trug – stammte tatsächlich von einem Seeräubergeschlecht ab. Nach ihrer Ankunft auf den Außeninseln dauerte es nicht lange, bis er sich wieder einen Namen gemacht hatte und sich daranmachte, eine Flotte zu bauen und Seeleute anzuwerben. Die Welt wartete nur darauf, geplündert zu werden. Die Bekannte Welt war aus den Fugen geraten und fand sich widerwillig mit Hanish Meins neuer Herrschaft ab. Viele Gruppen wetteiferten darum, an der neu verteilten Macht teilzuhaben. Val fuhr zur See, nahm Dariel unter seine Fittiche und brachte ihm alles bei, was er übers Segeln, übers Kämpfen und die Seeräuberei wissen musste, darüber, wie man Menschen führte und in diesem grausamsten aller Dasein überlebte.
Das, was vorher gewesen war – der Palast von Acacia, sein Leben als Prinz, das Reich seines Vaters und die drei anderen Kinder, die Leodan mit Dariels Mutter Aleera Akaran gezeugt hatte -, nun, in Vals Erinnerung schien dies alles viel lebendiger zu sein als in Dariels. Warum sollte er versuchen, an Menschen festzuhalten, die er nie wiedersehen würde? Damals war er noch so jung gewesen, dass die Erinnerungen sich in seinem Gedächtnis noch nicht mit geordneter Deutlichkeit festgesetzt hatten. Gewiss gab es Bilder. Aufwühlende Momente, die ihn im Genick zu packen schienen und ihm den Atem verschlugen. Hin und wieder
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