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Acacia 01 - Macht und Verrat

Acacia 01 - Macht und Verrat

Titel: Acacia 01 - Macht und Verrat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Anthony Durham
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über den festgetrampelten Sandboden. Der Weg vor ihr war im Sternenlicht knochengrau und wurde von einer niedrigen Hecke gesäumt. Sie kannte ihn in- und auswendig und nahm nie eine Laterne mit.
    Plötzlich erstarrte sie, meinte, etwas gehört zu haben – ein Flüstern vielleicht, irgendein Geräusch, das nicht hierhergehörte. Das Zirpen einer Grille, Geraschel einer Maus, Hundegebell im Dorf und die Stimmen, die vom Tempel herangetragen wurden: Das war alles. Je länger sie still dastand, desto mehr zweifelte sie daran, dass sie überhaupt irgendein bedeutsames Geräusch vernommen hatte. Fast hatte sie sich schon mit diesem Gedanken angefreundet, als es hinter ihr im Gebüsch knackte.
    Sie fuhr herum und sah eine Männergestalt als dunklen Umriss hinter sich auftauchen. Sie musste sich im Gebüsch versteckt haben, bis sie vorbeigegangen war. Die Gestalt war größer als die Vumu-Männer aus dem Dorf. Es musste ein Fremder sein, ein Seemann oder ein Pirat, jemand, der ihr übelwollte. Warum hätte er ihr sonst im Dunkeln auflauern sollen? Sie überlegte, wie weit es bis zum Dorf war oder ob sie kehrtmachen und zum Tempel zurücklaufen sollte. Sie könnte schreien. Wie lange würde es wohl dauern, bis ihr jemand zu Hilfe käme? Sie ballte die Fäuste, spürte, wie sich die Nägel in ihr Fleisch gruben, und empfand jenes rasch pulsierende Gefühl, von dem sie wusste, dass es Zorn war. In diesem Moment fühlte sie sich mehr als die Göttin als vorhin in ihrem prachtvollen Kostüm.
    »Mena? Ihr seid es doch, nicht wahr?«
    Sie verstand ihn klar und deutlich, und kurz fiel ihr auf, dass sein Akzent tatsächlich nicht der der Insel war. Dann aber wurde ihr noch etwas anderes bewusst. Er hatte gar nicht die Vumu-Sprache gebraucht. Er sprach … er sprach jene andere Sprache. Sie kannte die Worte und verstand ihre Bedeutung, noch während es ihr seltsam vorkam, dass ein anderer sie benutzte. Er hatte sie mit ihrem Vornamen angesprochen, ein Name, den nur wenige Menschen auf der Insel kannten. Einen Moment lang fürchtete sie, einen Dämon auf sich aufmerksam gemacht zu haben. Vielleicht missfiel sie der Göttin, weil sie in einer anderen Sprache gesprochen hatte. Vielleicht sollte diese Gestalt sie dafür strafen.
    »Was willst du?«, fragte sie auf Vumu. »Ich habe nichts, was du mir abnehmen könntest, also lass mich in Ruhe. Ich diene der Göttin. Ihr Zorn ist schrecklich.«
    »Davon habe ich gehört«, erwiderte der Mann. »Aber Ihr seht nicht aus wie ein großer Seeadler, der kleine Kinder raubt. Überhaupt nicht.« Der Mann trat einen Schritt näher. Als Mena zurückwich, hob er beschwichtigend die Hand. Vom Tempel drang Lärm herüber. Als der Fremde den Kopf schief legte und sie sein Profil sah, erkannte sie den Seemann, der sie am Vormittag angestarrt hatte. Ihre Neugier überwog ihre Angst. »Ihr sprecht Vumu wie eine Einheimische, aber Ihr seid nicht von hier, nicht wahr? Sagt mir, dass ich mich nicht getäuscht habe. Ihr seid Mena Akaran vom Baum der Acacier.«
    Mena schüttelte den Kopf und wiederholte mehrmals: »Ich bin Maeben auf Erden«, jedoch zu leise, um ihn zu unterbrechen.
    »Aliver war Euer älterer Bruder. Eure Schwester hieß Corinn. Dariel war der Jüngste. Leodan war Euer Vater …«
    »Was willst du?«, fauchte sie. Es war keine Frage, sondern ein plötzlicher Schrei, der aus ihrer Brust hervorbrach, ein heftiges Bedürfnis, ihn zum Schweigen zu bringen, weil die Namen, die er aussprach, und die Sprache, die er so gelassen gebrauchte, sie ganz und gar nicht gelassen fanden.
    »Ihr kennt mich, Mena. Ich war ein Gefährte Eures Bruders, wir sind zusammen ausgebildet worden. Mein Vater hieß Althenos. Er hat als Archivar für Euren Vater gearbeitet. Als Ihr zehn wart, habe ich einmal mit Euch getanzt. Wisst Ihr noch? Ihr habt Euch auf meine Füße gestellt, und das hat sehr wehgetan. Sagt, dass Ihr Euch an mich erinnert. Bitte, Mena.«
    Während er sprach, war er immer näher gekommen. Obgleich das Licht nicht besser geworden war, erkannte sie seine Gesichtszüge nun deutlicher. Sie konnte sich nur zum Teil an die Dinge erinnern, die er schilderte. Sie drängelten sich in ihrem Kopf, widersprachen der Unmöglichkeit, dass er hier vor ihr stand und so etwas äußerte. Und doch kam ihr sein Gesicht bekannt vor. In seinen Augen erkannte sie den Jungen wieder, der er einmal gewesen war, noch immer so groß, weit auseinanderliegend und ruhig. Seine Lippen waren geöffnet, doch im Geiste sah sie, wie er

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