Acacia 01 - Macht und Verrat
doch sein aufmerksames Schweigen beunruhigte Mena. Sie schritt schneller aus.
Im Tempel angekommen, legte sie ihr vollständiges Maeben-Kostüm an: Man steckte ihr die Krallen auf die Finger, hüllte sie in mehrere Federschichten und setzte ihr den stachligen Kopfschmuck auf, der ihre grimmige, farbenprächtige Erscheinung vervollständigte. Während sich die Tempeldiener an ihr zu schaffen machten, wartete sie darauf, dass die Gottheit von der Verkleidung Besitz ergriff, Mena ihre Worte in den Mund legte, mit ihrer Zunge sprach und ihre Bereitschaft zu unbedingtem Glauben weckte. Bislang hatte die Göttin sie jedoch gerade dann im Stich gelassen, wenn sie ihrer am dringendsten bedurfte. Dann schwieg sie beharrlich, sodass Mena gezwungen war, nach bestem Vermögen an ihrer statt zu antworten.
Zunächst hatte Mena geglaubt, dies sei ihre eigene Schuld. Der Oberpriester hatte ihr versichert, die Gottheit stelle sie lediglich auf die Probe, denn sie sei eine strenge Herrin. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis Maeben ständig in ihr lebendig sein werde, nicht nur in der Raserei der Zeremonien. Das war nicht eingetreten, doch mit der Zeit hatte Mena sich immer besser mit ihrer Rolle abgefunden. Die Menschen in ihrer Umgebung waren tief verwurzelt im Glauben, und für gewöhnlich gab ihr das genügend Halt. Heute aber war es anders, und deshalb fürchtete sie sich vor der bevorstehenden Begegnung.
Nachdem man sie angekleidet hatte, nahm sie auf einem thronartigen Stuhl im Vorraum des Tempels Platz. Vor ihr stand Vaminee, der Oberpriester Maebens. Seine Haut war dunkel und so glatt, dass man ihm sein Alter nicht ansah, doch Mena wusste, dass er seine Stellung bereits seit über vierzig Jahren innehatte. Er trug ein dünnes, fast durchsichtiges Gewand, das ihm in Falten von den Schultern fiel, und stand so reglos da wie eine Statue. Dies war nicht das erste Mal, dass er mit ihr auf den Beginn einer solchen Begegnung wartete. In Wahrheit hatten sie in den letzten paar Jahren schon dreimal dieses erwartungsvolle Schweigen miteinander geteilt.
Das junge Paar trat ein, flankiert von einfachen Priestern. Mit gesenkten Häuptern und vorgestreckten Händen, die Handflächen nach oben gedreht, kamen sie langsam näher. Mena fiel auf, wie jung sie aussahen. Sie waren selbst noch Kinder! Wie konnten sie schon ein Kind gezeugt und es bereits wieder verloren haben? Vor dem Podest knieten sie nieder.
Ohne Vorrede fragte Vaminee: »Wer seid ihr? Woher kommt ihr? In welchen Verhältnissen lebt ihr?«
Der Vater antwortete mit sich überschlagender, erregter Stimme. Sie lebten in einem Bergdorf, erklärte er. Er jage Vögel, deren Federn bei den Tempelzeremonien verwendet würden; seine Frau webe aus Palmfasern Körbe und verschiedene andere Dinge, die sie in Galat auf dem Markt verkauften. Ihre Tochter Ria sei ein braves Mädchen gewesen, mit rundlichem Gesicht wie ihre Mutter, anderen Kindern gegenüber scheu. Sie hätten sie über alles geliebt. Er hätte ohne Zögern seine Seele statt der des Kindes hingegeben. Er könne nicht begreifen, weshalb …
»Ihr habt noch ein anderes Kind«, sagte Vaminee. »Den Zwillingsbruder des Mädchens. Seid dankbar dafür.«
»Und davor hatten wir noch ein Kind«, erwiderte der Vater trotzig. »Wir hatten Drillinge. Das erste Kind haben wir an das Fremdenopfer verloren. Sie haben uns Tan weggenommen. Warum bestraft Maeben uns nun schon wieder?«
Ach, dachte Mena, sie hatten bereits ein Kind für die Quote hergegeben. Und jetzt haben sie ein zweites verloren!
Vaminee zeigte sich ungerührt. »Drei Kinder in einem Schoß sind zu viel der Fülle, um unbemerkt zu bleiben. Aber erzählt uns genau, was mit dem Mädchen passiert ist.«
Die Mutter antwortete ihnen. Man sah ihr wenig von den Gefühlen an, die ihr Mann zeigte. Ihre Stimme war ebenso ausdruckslos und erschöpft wie ihr Blick, als hätte sie die Trauer längst hinter sich gelassen und befände sich an einem anderen Ort. Sie sei mit ihrer Tochter über einen Gebirgskamm gewandert, sagte sie. Ria sei ein Stück hinter ihr gegangen, doch sie habe den Weg gut gekannt. Sie konnte sie singen hören, immer wieder dieselben simplen Verse. Plötzlich verstummte der Gesang mitten im Satz. Sie drehte sich nach dem Kind um, doch es war nicht mehr da. Als sie zum Himmel emporschaute, sah sie die Beine ihrer Tochter. Sie baumelten in der Luft. Einen Moment später sah sie die riesigen Schwingen, die sie davontrugen. Erst da hörte sie ihr
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