Acacia 01 - Macht und Verrat
Körperhaltungen und Fußstellungen einzuprägen und das Schwert richtig zu halten. Jeder Fehler, den Melio korrigierte, war ausgemerzt. Nie brauchte er ihr etwas zweimal zu sagen. Zunächst zeigte sich ihr Lehrer erstaunt darüber, doch nach einer Weile nahm er ihre schnelle Auffassungsgabe als selbstverständlich hin. Im Eilschritt gingen sie von einer Lektion zur nächsten über. Sie übte die verschiedenen Hiebfolgen ein und lernte, die Kraft von den Beinen durch den wie eine Sprungfeder gespannten Oberkörper in die Klinge zu übertragen. Da sie regelmäßig schwamm und nach Muscheln tauchte, war Mena körperlich in guter Verfassung, doch Melio zwang sie, Muskeln zu gebrauchen, von deren Vorhandensein sie bislang nichts geahnt hatte.
Die Erste Figur, die des Edifus bei Carni, prägte Mena sich in den ersten drei Tagen ein. Für den Zweikampf zwischen Aliss und dem Wahnsinnigen von Careven benötigte sie zwei Tage. Melio schlug daraufhin vor, die Dritte Figur – die auf den Ritter Bethenri und dessen Teufelsgabeln zurückging – auszulassen, doch davon wollte Mena nichts hören. Sie half ihm, Modelle der kurzen, dolchartigen Waffen anzufertigen. Damit hieben und stachen sie einen ganzen Nachmittag lang aufeinander ein, bückten und drehten sich, tänzelten vor und zurück. Sie wirbelten Staubwolken auf und zogen die Blicke der Tempeldiener auf sich, die aus respektvollem Abstand ehrfurchtsvoll zusahen, wie ihre Herrin die tödlichen Bewegungen des Kriegshandwerks vollführte. Mena bemühte sich nach Kräften, während der Übungen göttinnenhafte Gelassenheit zur Schau zu stellen. Nie klagte sie über Müdigkeit. Nie erhob sie Einwände gegen eine neue Herausforderung. Sie wischte sich den Schweiß vom Gesicht und stand selbst dann aufrecht da, wenn sie keuchte und ihre Lungen wie ein Blasebalg pumpten.
Nachts legte sie sich in der Einsamkeit ihrer Gemächer auf die Seite, zog die Knie an die Brust und weinte vor Schmerzen. Sie kannte ihre eigenen Arme nicht mehr. An einigen Stellen waren sie dünner geworden, an anderen dicker und eckiger, von Muskeln neu geformt. Zum Glück konnte sie sich in der neuen Gestalt stets wiedererkennen. Die veränderten Konturen der Unterarme, die Form der Adern am Handrücken, die hervortretenden Muskelstränge am Halsansatz: Das war immer sie, Mena. Es war nicht so, als ob sie sich in etwas anderes verwandelt hätte, eher als ob sie unter einer lange getragenen Verkleidung zum Vorschein kam. In der Abgeschiedenheit ihres Gemachs stand sie nackt da und bewunderte die Veränderungen. In der Öffentlichkeit bemühte sie sich jedoch nach Kräften, sie zu verbergen.
Wenn die Priester von ihren täglichen Übungen wussten – und sie wussten bestimmt davon -, so ließen sie es sich nicht anmerken. Mena gab ihnen keinen Anlass zum Tadel. Ihre Pflichten erfüllte sie gewissenhafter als zuvor. Zu den Abendzeremonien und den Sondervorführungen zu Ehren besonderer Gäste erschien sie stets pünktlich, und sie war jetzt leichter auf dem Tempelgelände zu finden als früher, als sie freie Zeit vorzugsweise auf dem Grund des Hafenbeckens verbracht hatte. Bei offiziellen Anlässen harrte sie geduldig in Maebens Kostüm aus. Innerhalb von zwei Wochen musste sie zweimal trauernde Eltern empfangen, deren Kinder die Göttin geholt hatte. Sie ertappte sich dabei, wie sie sich bemühte, die Priester mit ihren Äußerungen zufrieden zu stellen. Bislang war ihr diese Neigung fremd gewesen, und sie erinnerte sich nur ungern an manche Bemerkungen, die sie den trauernden, zerknirschten Eltern gegenüber gemacht hatte. »Schaut nicht zum Himmel auf«, sagte sie einmal, »wenn ihr wollt, dass Maeben eure Frömmigkeit sieht.«
Wie ungerecht, dachte sie, den Menschen einzureden, sie sollten etwas fürchten, das so allgegenwärtig war wie der Himmel. Sie selbst hielt häufig über den Bergen im Inselinneren nach der Raubvogelgestalt Ausschau. Weshalb verbot sie dann den Menschen, das Gleiche zu tun? Sie begriff, dass ihre Äußerungen von Mund zu Mund wandern würden. Schon bald würde das ganze Dorf und schließlich das ganze Inselarchipel von dem neuen Verbot von Maeben-auf-Erden wissen. Die Menschen würden mit gesenkten Köpfen durch ihr tägliches Leben gehen. Vaminee, der Oberpriester, war bestimmt erfreut darüber, ließ sich allerdings nicht dazu herab, dies auch zu zeigen.
Melio hingegen sprach sein Missfallen an ihrem Dienst an der Göttin ohne Scheu aus. Sie trafen sich noch immer nachts,
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