Acacia 01 - Macht und Verrat
unterhielten sich über die täglichen Übungen und planten das weitere Vorgehen. Sie seien beide Acacier, rief er ihr ins Gedächtnis. Mit den Inselgottheiten hätten sie nichts zu schaffen. Das seien untergeordnete Mächte – falls man überhaupt von Mächten sprechen könne. Sie zu verehren, trage nicht dazu bei, die Kluft zwischen den Menschen und dem Schöpfer zu schließen. Das sei wichtig. Das könnte vielleicht helfen, die Ordnung in der Welt wiederherzustellen. Wenn Mena beten wolle, solle sie auf Acacisch zum Schöpfer beten. Jeden Tag könne Aliver sie rufen; dann müsse sie in jeder erdenklichen Beziehung bereit sein.
»Und Ihr betet stattdessen einen Seeadler an?«
Mena saß ihm im Kerzenschein gegenüber. Es war Nacht, und kein Lüftchen regte sich, sodass die Flammen stetig brannten.
»Und was ist mit den Kindern? Eure Maeben raubt Kinder und schleppt sie schreiend in …«
»Schweigt!«, fauchte Mena. Das Wort brach so heftig wie ein Schwerthieb aus ihr heraus. Sie ertrug es nicht, wenn er sich so respektlos über die geraubten Kinder äußerte. »Mir bleibt keine andere Wahl. Ich bin Maeben. Das habe ich mir nicht ausgesucht. Sie ist in mich gefahren, und ich habe mich in sie verwandelt. Als ich hier ankam, war ich ein Niemand …«
»Ihr wart eine acacische Prinzessin.«
»Ich war völlig ahnungslos. Ich hatte nichts. Ich war nichts weiter als ein Waisenkind! Ich habe nicht einmal ihre Sprache verstanden. Ich kannte keinen Menschen. Ich war allein! Könnt Ihr verstehen, wie das für mich war?«
»Dann hat die Göttin auch Euch geraubt. Und dafür seid Ihr auch noch dankbar?« Als Mena schwieg, wandte sich Melio kopfschüttelnd ab und betrachtete den Nachthimmel. »Nein, das verstehe ich nicht. Ihr seid eine junge Frau, Mena. Das Kind, von dem Ihr sprecht, gibt es nicht mehr. Ihr seid keine Göttin, und das wisst Ihr auch. Die Priester wissen es. Diese armen Menschen, die Euch verehren, wissen es. Sie alle tun nur so, als glaubten sie. Maeben raubt Kinder, um sich in ihrem Palast von ihnen bedienen zu lassen? Das ist doch lächerlich. Eure Göttin ist nichts weiter als ein gefräßiger Raubvogel. Der lebt auf der Insel südlich von hier. Anstatt ihn zu verehren, sollte ihn jemand abschießen. Ich habe ihn selbst gesehen. Wenn ich einen Bogen hätte, würde ich nicht zögern, ihn zu benutzen.«
Nach kurzem Schweigen sagte Mena: »Ihr habt recht. Ihr versteht gar nichts.«
Als sie am nächsten Tag mit den Übungen fortfuhren, waren ihre nächtlichen Meinungsverschiedenheiten vergessen. Mena erlernte mühelos die Vierte Figur – die Gethack des Hassers. Mit der Fünften hatte sie jedoch Schwierigkeiten. Das lag nicht etwa an ihrem Unvermögen, ganz im Gegenteil. Sie hatte das Gefühl, sie werde durch die Figur zu stark eingeschränkt. Was hatte sie davon, dass der Adaval-Priester gegen zwanzig wolfsköpfige Wächter des Andar-Kults gekämpft hatte? Beim Erlernen der Sechsten Figur kamen ihr noch stärkere Zweifel. Sie bekam den Eindruck, es bestehe ein Unterschied zwischen den eingeübten Hieben und den Bewegungen, die sie ausgeführt hätte, wenn es tatsächlich ihre Absicht gewesen wäre, ihren Gegner zu töten. Als sie erst einmal darauf aufmerksam geworden war, fragte sie sich, weshalb man überhaupt jemanden auf eine Weise angreifen sollte, die der andere erwartete. Zwar kräftigte das Hin und Her der vorgegebenen Bewegungen den Körper und schärfte die Reflexe, doch das war ihr nicht genug.
Eines Nachmittags brach sie mitten in der Sechsten Figur gereizt ab. »Das ist mir zu viel Getanze. Kein Wunder, dass die Armee so leicht zu schlagen war.« Melio wollte widersprechen, doch Mena winkte beschwichtigend ab. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und suchte einen Moment nach der passenden Formulierung. »Warum sollen wir mythische Schrittfolgen erlernen, die noch aus der Zeit stammen, als die Alten die Götter von Ithem besiegt haben? Welche Bedeutung hat das heute noch? Wir kämpfen nicht mehr gegen die Götter von Ithem. Warum sollen wir dann so tun?«
Melio hatte eine Antwort darauf, doch Mena ließ ihn nicht zu Wort kommen.
»Was Ihr mich lehrt, ist alles gut und schön«, sagte sie, »aber ich habe den Eindruck, dass das Schwert dadurch eher eingeschränkt als befreit wird. Ihr habt gesagt, die Figuren wären die Grundlage unseres militärischen Systems?«
Melio nickte.
»Dann seht Ihr das Problem.«
Melio war sich dessen keineswegs sicher.
»Mir ist klar, dass ich ein
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