Acacia 01 - Macht und Verrat
dass sie noch Jungfrau war, und machten sich einen Spaß daraus, diese Tatsache zu erörtern.
Niemals hätten sie sich vorstellen können, dass sie mitten in der Nacht von Uvumal zurückgekehrt war. Sie war über einen schattigen Waldpfad zum Strand gestapft. Auf dem rechten Bein hatte sie heftig gehinkt, denn der Oberschenkel war mit roten, blauen und schwarzen Blutergüssen übersät. Prellungen an der Brust ließen sie keuchend atmen. Vielleicht hatte sie sich die Verletzungen beim Sturz durchs Laubdach zugezogen, als sie von Ast zu Ast gefallen, schmerzhaft herumgeschleudert worden und schließlich in einem Gewirr von Zweigen gelandet war. Oder vielleicht hatte sie sich auch die Lungenkrankheit geholt, von einer Erkältung, die sie sich zugezogen hatte, als sie, die schwere Last hinter sich herschleifend, durch den Wald gewandert und dann im Regen nach Vumair zurückgesegelt war.
Ruinat hatte still und durchnässt gewirkt unter der tiefschwarzen nächtlichen Wolkendecke. In Wegfurchen, Fußabdrücken und allen anderen Vertiefungen sammelte sich Wasser. Sie achtete nicht auf die Pfützen, sondern schritt geradewegs hindurch, manchmal bis zu den Knöcheln im Morast. Das Schwert hatte sie sich auf den Rücken geschnallt, und sie zog eine Last hinter sich her, die schwer genug war, dass sie sich anstrengen musste. Sie hatte sich das Seil mehrfach um die Hüfte gewickelt und das Ende über die Schulter gelegt. Am anderen Ende war der Vogel befestigt, die Schwingen an den Leib gebunden. Sie brachte ihn nach Hause, eine Opfergabe an das Volk der Vumu. Was dieses damit anfangen wollte, musste es selbst entscheiden.
Sie hatte Mühe, die Tempeltreppe hinaufzusteigen. Der Kadaver blieb an jeder Ecke hängen, und sie musste sich mit aller Kraft gegen ihre Last stemmen. Auf der obersten Stufe angelangt, löste sie das Seil von der Hüfte und warf es über die Steinfigur, die Maeben darstellte. Mit aller Kraft zog sie daran, schaffte es aber nur, den Vogel in eine aufrechte Haltung zu bringen. So ließ sie ihn zurück. Sie ließ das Seilende einfach fallen und wandte sich ab, ohne weiter darüber nachzudenken.
Im Innern ihrer Unterkunft bewegte sie sich leichtfüßiger. Sie wusste, wo jeder einzelne Tempeldiener schlief, und konnte sich darauf verlassen, dass sie in ihrer Abwesenheit ihre Gewohnheiten beibehalten hatten. Deshalb fiel ihr auf, dass in einem der Räume eine zusätzliche Person schlief. Melio. Sie brauchte ihn nur atmen zu hören und seinen Geruch einzuatmen, um zu wissen, dass er es war. Damit hatte sie nicht gerechnet. Ihn hatte sie in ihre Pläne nicht einbezogen. Doch ihr war klar, dass sie ihm irgendwie eine Nachricht hinterlassen musste. Diese würde unvollständig ausfallen. Sie würde ihn in den Wahnsinn treiben. Doch sie musste ihm etwas als Gegenleistung für all das geben, was er für sie getan hatte.
Sie brauchte ein paar Augenblicke, um die Nachricht zu Papier zu bringen. Als sie den Raum betrat, hielt sie den Zettel an die Brust gedrückt. Sie atmete flach und bewegte sich so leise, wie sie es nur in Momenten höchster Konzentration vermochte. Das Schwert lehnte sie an die Wand, wo er es beim Aufwachen sehen würde, dann näherte sie sich der schlafenden Gestalt. Sie wusste, dass sie ihn nicht aufwecken würde, deshalb legte sie den zusammengefalteten Zettel dicht vor sein Gesicht, sicher unter seinem nackten Arm geborgen. Sie riskierte ein paar Momente mehr, um ihn zu betrachten, und nahm die Großzügigkeit in seinen schlafenden Zügen in sich auf. Zum ersten Mal wunderte sie sich nicht, weshalb ihr Blick so gern auf seinem Gesicht verweilte. Es war auf so vollkommene Weise unvollkommen. Noch nie hatte ihr ein Gesicht so gut gefallen. Zumindest nicht mehr, seit sie zum letzten Mal das Gesicht ihres Vaters vor sich gesehen hatte, während er ihr von den alten Mythen erzählte.
Obwohl sie für Melio ganz anders empfand als für ihren Vater, war ihr doch klar, dass die Menschen das Gefühl Liebe nannten. Sie hatte gewusst, dass es das war, was sie fühlte, noch ehe sie den Raum betreten hatte. Sie liebte ihn so sehr, dass sie ihren Plan niemals ausgeführt hätte, wenn er aufgewacht wäre. Deshalb ließ sie ihn schlafen und schrieb in krakeligen, eingerosteten acacischen Buchstaben:
M., du hattest natürlich mit allem recht. Es hat eine Weile gedauert, bis ich es begriffen habe, doch jetzt ist es mir klar. M.
Darunter setzte sie zwei weitere Zeilen, kein nachträglicher Einfall, sondern
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