Acacia 01 - Macht und Verrat
an dem toten Tier befestigt war, hatte man über den Kopf einer der Steinfiguren geworfen, die Maeben darstellten. Der Leichnam lehnte unbeholfen an der Holzsäule, der Kopf hing in einem unnatürlichen Winkel herab. Der Seeadler war vom Nachtregen durchnässt, die offenen Augen starrten schmutzverkrustet ins Leere: Als lebendes Raubtier war der Adler eine imposante, furchterregende Erscheinung gewesen, doch Melio wusste, dass es nicht das war, was die Menschen jetzt mit offenen Mündern staunen ließ.
»Schaut euch eure Göttin an«, flüsterte Melio.
Die neben ihm stehende Frau wandte ihm das Gesicht zu. Sie hatte ihn gehört. Ihre grünlichen, gold gesprenkelten Augen waren halb hinter schwarzen Haarsträhnen verborgen, doch sie musterten ihn forschend. Unwillkürlich sprach er sie an.
»Davor habt ihr Angst, oder etwa nicht? Dass dieser Vogel Maeben gewesen sein könnte. Ich glaube, sie ist es. Ihr habt recht.« Er wandte sich wieder dem Kadaver zu. Allmählich ergab die geheimnisvolle Nachricht Sinn. »Eure Maeben ist tot, und ich weiß, wer sie getötet hat.«
Die Dorfbewohner hatten angefangen, vor ihm zurückzuweichen, als sei mitten unter ihnen ein gefährliches Raubtier erschienen. Ihre Blicke wanderten zwischen ihm und dem toten Seeadler hin und her, als wären sie unsicher, von wem die größere Bedrohung ausging.
Melio schlug einen sanfteren Ton an. Er wollte, dass sie begriffen, anstatt sich zu fürchten. Er wollte, dass sie ihm vertrauten, auch wenn er noch nicht genau wusste, warum. »Mena – die Priesterin, die ihr Maeben-auf-Erden nennt. Sie hat das getan -«
»Schweig!«, brüllte jemand. Vaminee, der Oberpriester, trat mit der ganzen Würde seines Amtes auf den Plan. Die Menge teilte sich vor dem Priester; die Bauern verneigten sich ehrfürchtig. Tanin stand unmittelbar hinter ihm. Melio hatte beide noch nie gesehen, erkannte sie aber auf den ersten Blick. In schwachen Momenten hatte Mena sie ihm äußerst treffend beschrieben. Tempelwachen begleiteten sie. Ihre Schwerter waren nicht aus Metall, sondern aus Holz, und die Klingen waren nicht sonderlich scharf. Doch Melio wusste, dass sie in ihrer eigenen Fechtdisziplin hervorragend waren, einer Technik, die Ähnlichkeiten mit dem Stockkampf hatte.
»Aber es ist wahr«, sagte Melio und zwang seine Stimme, nicht zu zittern. »Sie hat das getan. Das ist eine Botschaft an -«
Tanin fiel ihm ins Wort. »Du bist nicht Maebens Prophet! Du hast nicht das Recht, für die Priesterin oder im Namen der Göttin zu sprechen. Oberpriester, ich klage diesen Mann an, Maeben hinterlistig geschändet zu haben. Er hat... einen von Maebens Kriegern getötet.«
Vaminee zuckte mit keiner Wimper. Sein Gesicht war eine starre Maske, in Stein gemeißelte Wut. Er sagte: »Sucht die Priesterin. Schafft sie her. Und der Rest von euch, kriecht auf Knien von hier fort. Bittet um Vergebung für diese Schändlichkeit.« Die Bauern sanken wie befohlen in den Schlamm. Vaminee drehte sich um und starrte eine der Tempelwachen an.
Melio begriff, was er dem Mann wortlos mitteile. Gleich würde man ihn ergreifen und fesseln, vielleicht auch verprügeln oder in einem Ritual töten. Er wusste, dass er in den Augen der Dorfbewohner wie ein Verbrecher aussehen würde, doch er durfte nicht zulassen, dass man ihn gefangen nahm. Die Priester würden alles verdrehen. Nicht einmal Mena würde sie aufhalten können.
Unmittelbar links von ihm stand ein weiterer Tempelwächter, ein junger Mann, der beim Anblick des schlaff herabbaumelnden Raubvogels die Strenge seines Amtes vergessen hatte. Melio drehte sich mit freundlicher Miene zu ihm um, als wollte er sich entschuldigen oder eine Erklärung vorbringen. Dann rammte er die flache Hand mit solcher Wucht von unten her gegen die Nase des Mannes, dass das Nasenbein brach. Mit der anderen Hand packte er das Heft des Holzschwerts und zog es aus der Scheide, als der Mann brüllend und blutspritzend zu Boden ging.
»Tötet ihn!«, rief Tanin.
Seine Worte hatten genug Macht, um den Bann zu brechen. Die Tempelwächter verteilten sich. Sie zogen die Waffen und bildeten einen Kreis um Melio, der sich stetig zusammenzog.
Die Schwerter waren dafür gedacht, zu bestrafen und Gehorsam einzufordern, doch die Männer wussten sie auch als tödliche Waffen zu gebrauchen. Melio blieb ständig in Bewegung und wirbelte leichtfüßig hierhin und dorthin. Er versuchte, sich an die Lektionen zu erinnern, bei denen es um die Abwehr mehrerer Gegner gegangen
Weitere Kostenlose Bücher