Acacia 01 - Macht und Verrat
mit den Fremden zu sprechen, die dort als Gäste weilten. Ein paar Minuten lang hätten sie in einer fremden Sprache miteinander gesprochen, dann hätten die Fremden sie ergriffen. Einer von ihnen, der Große mit Haar wie aus Gold gesponnen, habe tatsächlich Hand an die Göttin gelegt. Dann hätten die Fremden sie sofort auf ihr Schiff gebracht und seien bereits mit der einsetzenden Ebbe ausgelaufen.
Melio hörte dies alles in einem einzigen Atemzug und begriff erst, worum es ging, als sie geendet hatte. Dann traf die Neuigkeit ihn mitten in die Brust, der erste Schlag, den er an diesem Morgen einstecken musste.
»Sie haben die Priesterin mitgenommen?«, fragte Tanin, noch immer außer Atem.
»Ja«, bestätigte ein Mann, der soeben hinzugekommen war. »Sie wollte mit ihnen sprechen. Ich habe alles mit angehört. Ich war näher dran als sie.« Geringschätzig zeigte er auf die Frau. Dann besann er sich, fiel auf die Knie und wandte sich Vaminee zu. »Hoher Priester, sie hat mich angeblickt und gesagt: Volk der Vumu ...« Er stockte.
»Volk der Vumu?«, wiederholte der Oberpriester, der endlich seine bedrohliche Ruhe verlor. »Was hat sie noch gesagt?«
»Das war alles. Dann wurde sie weggezerrt. Mehr konnte sie nicht sagen.«
Melio hörte dem darauf folgenden Stimmengewirr nur halb zu, doch er wusste, dass sie Ereignisse kommentierten, die sich mit jeder Minute mehr überschlugen. Die Fremden hatten Mena gepackt, sie entführt, sie in ihre Heimat verschleppt. Jemand begann zu jammern, worauf ein gemeinschaftliches Wehklagen einsetzte. Ein anderer schrie, die Fremden hätten Maeben getötet. Die Göttin sei tot und die Priesterin eine Gefangene der Übeltäter.
Melio witterte eine Möglichkeit. Aus diesen Geschehnissen musste sich etwas machen lassen, vielleicht etwas, das Mena nur verschwommen klar gewesen war, als sie sie in Gang gesetzt hatte. Er verweigerte sich der Trauer, die, wie er genau wusste, dicht über ihm schwebte. Damit konnte er sich später befassen. Jetzt aber musste er den Augenblick nutzen, bevor er vorbei war.
Er zwängte sich zwischen zwei Tempelwächtern hindurch, die ihn eben noch hatten töten wollen, und trat zu dem Adlerleichnam. Mit der flachen Hand schlug er dagegen, packte zu, riss eine Hand voll Federn aus und warf sie in die Luft über der Menge. Augen wandten sich ihm zu. Stimmen verstummten. Selbst die beiden Priester sahen ihn an und warteten darauf, was er zu sagen hatte. Dabei wusste er das selbst nicht genau, bis er den Mund auftat.
»Die Göttin lebt in der Frau, die sich Mena nennt«, sagte er. »Hört ihr mich? Die Göttin lebt in Mena! Sie ist ausgezogen, um gegen die Fremden zu kämpfen, und fordert das Volk der Vumu auf, sich zu beweisen.« Er stockte, erst jetzt wurde ihm klar, worauf seine Ansprache hinauslief. »Volk der Vumu, die Priesterin ist in Gefahr. Sie ist in den Händen des Feindes. Volk der Vumu... was werdet ihr tun, um sie zu retten?«
55
Mena hörte es jedes Mal, wenn sie zu ihr herunterkamen. Sie vernahm das Poltern der harten Stiefel auf der schmalen Holztreppe. Maeander trat immer als Erster ein, gefolgt von seinem Schatten, dem acacischen Verräter Larken. Stets nahmen sie an der gegenüberliegenden Kabinenwand Aufstellung, schwankten mit den Bewegungen des Schiffes und starrten sie nachdenklich an. Sie kamen einfach nicht damit zurecht, wie sie ihnen in die Hände gefallen war. Mehrmals wollten sie wissen, weshalb sie an diesem Morgen den Magistrat aufgesucht habe. Jedes Mal gab sie dieselbe Antwort. Sie habe gehört, dass jemand nach ihr suche. Bei dieser schlichten Erklärung grinste Maeander unweigerlich und wechselte einen Blick mit seinem Freund.
Natürlich war das nicht die ganze Wahrheit, doch sie hatte nicht das Bedürfnis, ihnen mehr zu erzählen. Sie brachten sie zurück zum Mittelpunkt der Welt, nach Acacia. Genau das war ihr Streben. Ohne es zu wissen, taten sie, was sie wollte, und nicht umgekehrt. Doch das wollte sie lieber für sich behalten. Über die Ereignisse, die ihrem Erscheinen beim Magistrat vorausgegangen waren, schwieg sie. Wären sie nicht so eilig aufgebrochen, hätten sie weit mehr über sie in Erfahrung gebracht, als sie jetzt wussten, doch so war es ihr gerade recht. Vor sich sahen sie eine junge Frau von kleiner, beinahe zierlicher Statur. Aufrecht und sittsam saß sie da, als Vogel verkleidet, gefiedert und geschmückt, eine Priesterin, die ein zurückgezogenes Leben geführt hatte. Zweifellos wussten sie,
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