Acacia 01 - Macht und Verrat
hätte, die er ihm nicht eingepflanzt hatte und auf die er selbst auch nicht gekommen wäre. Allerdings waren es Ideen von solch hehrer Ehrbarkeit, dass er dem jungen Mann keinen Vorwurf machen konnte.
Wenn Aliver versprach, diejenigen zu belohnen, die ihn unterstützten, so gedachte er das nicht auf herkömmliche Weise zu tun, nämlich mit Reichtümern und Macht, was dazu geführt hätte, dass einer über den anderen erhoben würde. Vielmehr wollte er die alten Bräuche von Grund auf ausmerzen. Er forderte die Stämme – ob in Talay oder Candovia, in Aushenia, Senival oder anderswo – auf, einander als Angehörige einer weit verzweigten Familie zu betrachten. Sie bräuchten einander nicht bedingungslos zu lieben, müssten nicht mit allem einverstanden sein und bräuchten beim Geben nicht aufs Nehmen verzichten. Doch sie sollten sich in Zukunft zu gemeinsamen Beratungen zusammenfinden und nach Mitteln und Wegen suchen, die ihnen allen Vorteile brächten. Jedes Volk könne selbst zu Wohlstand gelangen und sich auch des Glücks seiner Nachbarn erfreuen. Weshalb sollte es anders sein?
»Edifus hat sich geirrt«, sagte Aliver eines Abends, und seine Worte sollten Thaddeus nicht mehr aus dem Kopf gehen. »Tinhadin hat sich geirrt. Zu viele Generationen haben sich mit denselben Ungerechtigkeiten abgefunden. Nicht einmal Leodan Akaran, mein Vater, hat eine Möglichkeit gesehen, sich aus der Tyrannei der Rolle zu befreien, die er für die ganze Welt spielte. Er wusste, dass es falsch war. Ich habe es gespürt; ich wusste es, ohne es zu wissen; ich habe mich bemüht, es zu verdrängen, denn ich habe gespürt, dass man nicht wollte, dass ich darüber nachdenke. Doch dann kam Hanish Mein. Dann kam das größere Übel, das das Land verbrannte und es in so vieler Hinsicht verheert und verwüstet zurückließ. Ich verabscheue Hanish Mein, weil er unermessliches Leid über die Welt gebracht hat. Es ist mir zuwider, dass ich jetzt Tausende bitten muss, ihr Leben im Kampf gegen ihn zu lassen. Für eines aber bin ich ihm dankbar. Als Hanish Mein die Erbfolge der Akaran-Herrschaft durchbrochen hat, hat er die Bühne für schicksalhafte Veränderungen bereitet. Er ist nichts weiter als die Pause zwischen zwei Sätzen. Die frühen Akaran haben den ersten Satz gesprochen, und die Folge war Enttäuschung; ich und diejenigen, die nach mir kommen, werden den zweiten Satz sprechen, und er wird den Menschen Gerechtigkeit bringen.«
Hanish Mein nichts weiter als die Pause zwischen zwei Sätzen... Noch nie hatte Thaddeus eine solch kühne Lagebeschreibung vernommen. Und Aliver machte hier nicht Halt. Er versprach, der Fronarbeit in den Bergwerken ein Ende zu bereiten. Er wollte die Quote abschaffen und niemals wieder mit Nebel handeln. Er gelobte, das vorrangige Ziel seiner Herrschaft werde sein, der Allgemeinheit zu nützen. Er glaube nicht, dass die natürliche Ordnung der Dinge darin bestünde, dass einige wenige aus der Arbeit und dem Leiden der Mehrheit Nutzen zögen. Er liebe seine Ahnen – auf dass niemand dies in Zweifel ziehe. Sie hätten zwar eine schlechte Weltordnung geschaffen, ihn selbst andererseits aber möglich gemacht. In seinem – und in ihrem – Namen werde er eine bessere Zukunft schaffen.
Die Zögerlichkeit, die Aliver in seiner Jugend gezeigt hatte, war verschwunden. Sie war weggebrannt wie Babyspeck von seinem schlanken Körper, und tagsüber legte er einen unermüdlichen Elan an den Tag. Bei Nacht, wenn er mit Thaddeus allein war, zeigten sich in seinem Gesicht und in seiner Haltung Müdigkeit und Besorgnis. Das aber, dachte Thaddeus, war nicht verwunderlich.
Als sie die weite Ebene erreichten, die sich im Norden bis nach Bocoum erstreckte, nannten viele Aliver nicht mehr nur den Schneekönig. Jetzt wurde er als Prophet des Schöpfers bezeichnet. Noch nie zuvor, sagten die Leute, habe jemand solch hehre Wahrheiten verkündet. Durch ihn spreche die Gottheit. Mit diesem Krieg stelle der Schöpfer die Rechtschaffenheit der Welt auf die Probe. Wenn sie siegten, werde er vielleicht wieder in die Welt zurückkehren und erneut unter den Menschen wandeln.
Aliver selbst stellte keine derartigen Behauptungen auf, doch diese Ideen breiteten sich aus wie ein Buschfeuer im talayischen Grasland. Sie wanderten von Mund zu Mund, von Dorf zu Dorf, verbreiteten sich in unterschiedlichen Sprachen. Sie erklommen Berghänge und zogen übers Meer. Die Menschen sehnten sich nach einer solchen Botschaft. Sie verschlangen sie mit
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