Acacia 01 - Macht und Verrat
Kopf zu schütteln. Er begriff nicht, worauf sie hinauswollte, doch was sie da sagte, konnte nicht – durfte nicht – wahr sein.
»Ihr glaubt mir nicht?«, sagte sie. »Wüsste ich sonst von den Briefen, die Ihr ihm geschickt habt? Woher sollte ich sonst wissen, dass Ihr im Norden unglücklich wart? Ich habe meinem Vater sehr nahegestanden, Rialus. Wir haben uns sehr geliebt. Er hat häufig mit mir über seine Sorgen gesprochen, auch über Euch. Übrigens gibt es einen Grund, weshalb ich mir Euren Namen gemerkt habe. Weil Ihr ein paar Wochen später als Verräter verschrien wart. Ich dachte: Nein, das kann nicht sein. Nicht der Rialus, auf den mein Vater so große Stücke gehalten hat. Doch es stimmte. Ihr habt ihn verraten, und deshalb steht Ihr jetzt hier. Ich möchte nur wissen, habt Ihr damals eine gute Wahl getroffen? Führt Ihr das Leben, das Ihr Euch erträumt habt?«
Rialus wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Ihre Worte waren beleidigend. Er sollte sich dagegen verwahren. Ganz gewiss hatte er mehr als genug dazu zu sagen, wie er gekränkt und übergangen worden war. Allerdings drückten ihr Tonfall, ihre Gesten oder ihre Miene keinen Vorwurf aus. Offenheit und Neugier waren in ihren Zügen zu lesen. Er hatte erwartet, dass sie ihm grollte, doch davon merkte er nichts. Stattdessen spürte er... nun, etwas, das er sehr lange nicht mehr gefühlt hatte. Er war sich nicht einmal sicher, ob er sich überhaupt noch an das entsprechende Wort erinnerte. Jedenfalls nicht, bis Corinn ihm auf die Sprünge half.
»Ich frage nicht, weil ich über Euch urteilen will. Wirklich, ich empfinde Mitgefühl für Euch. Ich habe ebenfalls Menschen verraten, die ich liebe. Deshalb weiß ich, wie es ist, wenn man Fehler macht, die man hinterher bereut und sehnlichst wiedergutzumachen wünscht. Ich dachte, Euch ginge es vielleicht genauso, Rialus.«
Mitgefühl . Das war das Wort. Sie hatte Mitleid mit ihm. Das war zu viel, um es zu erfassen – sowohl die Empfindung wie auch die Möglichkeiten, die sich daraus ergeben mochten. Zur Abwehr verlegte er sich auf eine alte Litanei. »Unser beider Schicksal ist kaum miteinander zu vergleichen, Prinzessin. Ich bin Botschafter. Das ist eine wichtige, verantwortungsvolle Stellung...«
Corinn winkte ab. »Gut. Ihr führt also genau das Leben, das Ihr Euch gewünscht habt. Das glaube ich Euch zwar nicht, doch ich will mich nicht mit Euch streiten. Dann sagt – wie denkt Ihr über die Rückkehr meines Bruders?«
Sollte er ihr tatsächlich von Aliver erzählen? Beinahe hätte er sie gefragt, weshalb sie das wissen wollte. Die Gründe dafür lagen zwar auf der Hand – doch sie waren auch widersprüchlich. Er ist mein Bruder, und ich liebe ihn, hätte sie antworten können. Das aber wollte er aus verschiedenen Gründen nicht hören. Er stellt eine Bedrohung für Hanish dar, könnte sie sagen. Das aber wollte er auch nicht hören, wenngleich seine persönliche Sicherheit auf dem Fortbestand seiner gegenwärtigen Bindungen beruhte. Deshalb bemühte er sich, ihr möglichst nichtssagend zu antworten. »Er ist mir immer noch ein Rätsel, Prinzessin. Ich kann nicht...«
»Lügt nicht. Dazu besteht kein Anlass, und ich würde Euch auch nicht anlügen. Die Wahrheit, Rialus, ist, dass ich in diesem Palast keinen einzigen Freund habe. Niemanden kümmert es, was aus mir wird. Hanish ist nicht mein Freund, versteht Ihr? Er wird nie erfahren, dass wir uns getroffen und worüber wir gesprochen haben. Sagt mir, dass Ihr das verstanden habt.«
Er nickte, allerdings sehr zögernd, um ihr zu bedeuten, dass er mit der Täuschung, die sie ihm womöglich vorschlagen wollte, nicht zur Gänze einverstanden war.
Falls Corinn sein Zögern bemerkt hatte, so ließ sie es sich nicht anmerken. »Rialus«, sagte sie, »ich brauche dringend einen Freund – einen mächtigen Freund. Deshalb habe ich Euch angesprochen. Wünscht Ihr, Rialus, Euch ebenfalls einen Freund?«
Ohne zu überlegen, antwortete er: »Ja, sehr.«
»Dann werde ich Eure Freundin sein. Zwischen uns wird ein Geben und Nehmen herrschen, wie es unter Freunden üblich ist. Aber zuerst erzählt mir von meinem Bruder. Hanish versucht, mich im Unklaren zu lassen, aber er ist bloß grausam. Es schadet nichts, wenn Ihr mir sagt, was alle anderen bereits wissen. Helft mir zu verstehen, was draußen in der Welt vorgeht.«
Das kann ich tun, dachte er. Sie war auf ihn angewiesen. Das hatte sie selbst gesagt. Was konnte es schaden, wenn er ihr etwas
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