Acacia 01 - Macht und Verrat
so viel Zeit vergangen ist, ändert nichts. Dem Führer jeder Nation sollte klar sein, dass seine Entscheidungen Auswirkungen für die Zukunft haben. Als Königin Elena Tinhadins Angebot ausschlug, wusste sie, dass ihr Volk mit den Folgen würde leben müssen.«
Leodan sagte: »Thaddeus beschreibt eine bunte Welt in Schwarz und Weiß. In Wahrheit haben wir Aushenia in den alten Kriegen weder erobert noch geschlagen. Hätten die Aushenier den Mein nicht ebenfalls feindlich gegenübergestanden, hätten wir vielleicht gar nicht gesiegt. Seit Jahrhunderten sind sie weder Verbündete noch Vasallen, noch unsere Feinde.«
»Ja, seit Jahrhunderten«, erwiderte Thaddeus, »und das lässt sich nicht über Nacht ändern. In Wahrheit, Aliver, möchte dein Vater die Aushenier mit offenen Armen aufnehmen. Er ist ein Idealist. Er wünscht sich eine friedliche Welt, in der alle an der Tafel willkommen sind. Er will nicht wahrhaben, dass viele ausgeschlossen werden müssen, wenn es überhaupt eine Tafel geben soll. Dies aber ist die Grundlage sämtlicher Entscheidungen der Gilde. Das ist der Grund, weshalb Aushenia vermutlich nicht aufgenommen wird. Die Gilde hat bei einer geplanten Erweiterung ein Einspruchsrecht. Ich habe den Eindruck, dass ihr Aushenia durchaus reizvoll erscheint, sie aber aus einem Grund, den sie uns wahrscheinlich nie erläutern wird, Zurückhaltung übt. Vielleicht hat dir dein Lehrer das noch nicht in vollem Umfang erläutert, Aliver, aber das Reich ist nicht nur ein imperiales Unternehmen, sondern in gleichem Maße auch ein wirtschaftliches. Und dieser Bereich wird von der Gilde dominiert. Wir wissen nur in Ansätzen darüber Bescheid, wie die Gilde ihre Geschäfte tätigt, aber wenn sie Aushenia nicht dabeihaben will, muss es eben draußen bleiben.«
Leodan legte die Hände vors Gesicht, die Unterhaltung schien ihn zu ermüden. »Und das, mein Sohn«, sagte er, »ist der Kern des Ganzen.«
»In Schwarz und Weiß«, setzte Thaddeus hinzu.
11
Der Attentäter war heimlich nach Acacia gereist, weil er keine andere Wahl hatte. Hätte irgendjemand von Thasrens Unternehmung gewusst, hätte es viel zu viele Möglichkeiten eines Verrats gegeben. Viele Einwohner des Reiches klagten zwar über die acacische Vorherrschaft, doch außerhalb der Tore seiner Hauptstadt konnte er niemandem trauen. Er nahm nicht einmal die Hilfe der bereits in Acacia eingesickerten Spione in Anspruch, von denen viele seit Jahren, einige sogar schon seit Generationen im Lande waren. Wer wusste schon, inwiefern das Leben im südlichen Klima sie korrumpiert hatte? Stattdessen stahl er sich in die Unterstadt hinein und schlüpfte von dort aus in der Verkleidung eines Arbeiters durchs Haupttor. Unerkannt wanderte er durch die belebten Straßen, mit einer Leichtigkeit, die ihn mit Abscheu vor diesen Menschen erfüllt. In Tahalia hätte kein Fremder so frei umherstreifen können. Welchen Sinn hatte es, in solch einer gewaltigen Festung zu leben, wenn ein Feind so mühelos eindringen konnte? Diese Leute hatten die Insel nicht verdient. Wenn er den unverhohlen zur Schau gestellten Reichtum um ihn herum betrachtete, pochte sein Herz in freudiger Erwartung. Unter der Herrschaft der Mein würde ein Acacia neuen Namens zur uneinnehmbaren Bastion werden. Schwelgerisch malte er sich die Zukunft aus, obwohl er wusste, dass er diese glorreiche Zeit nicht mehr erleben würde.
Bei einem dunkelhäutigen Passanten erkundigte er sich nach dem Weg zu dem Viertel, in dem die ausländischen Würdenträger wohnten. Während er so tat, als sei er beschäftigt, wartete er auf die einzige Person, mit der er in Kontakt zu treten beabsichtigte. Lange brauchte er sich nicht zu gedulden. An seinem dritten Nachmittag in der Stadt erkannte er den Botschafter seines Volkes. Gurnals einstmals blondes Haar hatte, wie bei vielen Mein, die zu lange im Süden gelebt hatten, einen metallischen Schimmer angenommen. Zunächst machte er nur den Kopf des Mannes in der Menge aus, doch als der Botschafter näher kam, sah Thasren, dass er gekleidet war wie ein Acacier, mit einem weiten Gewand, Sandalen und Wollsocken. Allein das Medaillon auf seiner Brust verriet noch seine Herkunft. Maeander hatte recht gehabt; Gurnal war sich selbst untreu geworden. Warum nur stellten verweichlichende Annehmlichkeiten für schwache Menschen eine solche Verlockung dar? Warum übte eine auf Lügen gegründete Nation auf Menschen, die es eigentlich hätten besser wissen müssen, eine solche
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