Acacia 01 - Macht und Verrat
sie. »Sei doch kein Dummkopf. Morgen früh kommt Vater und lacht über deine verquollenen Augen, die du vom vielen Weinen bekommen wirst.«
Als Dariels Atem den gleichmäßigen Rhythmus des Schlafes annahm, löste sie sich von ihm. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und sah zu, wie seine Brust sich langsam hob und senkte. Sie betrachtete sein erschlafftes Gesicht. Wie lieb sie ihn doch hatte. Als ihr dies bewusst wurde, traten ihr zum ersten Mal an diesem Abend Tränen in die Augen. Bestimmt begriff er das alles nicht wirklich, oder doch? Auch sie selbst wusste wenig darüber, was überhaupt geschehen und wie schwer ihr Vater verletzt war, doch auf die Einzelheiten schien es gar nicht anzukommen. Ganz gleich, was morgen oder am Tag darauf passieren mochte, die Angst in seinem Blick hatte sich ihr unauslöschlich eingeprägt. Sie würde sie in Zukunft immer in der Tiefe seiner Augen sehen. Es war, als hätte sie ihn bei irgendetwas Unanständigem ertappt, etwas, das erniedrigend genug war, dass sie niemals zu der Unschuld zurückfinden konnte, mit der sie ihn eben noch betrachtet hatte. Zwischen ihnen würde nie wieder die alte Leichtigkeit herrschen.
Sie kroch aus dem Bett, schritt eine Weile in dem großen Zimmer auf und ab, betrachtete die Bodenfliesen und war sich nicht sicher, was sie tun, wohin sie sich wenden solle oder ob es überhaupt etwas gab, was sie machen, einen Ort, wohin sie gehen könnte. Ihr war klar, dass ihr heute niemand etwas sagen würde. Sie erwog, sich in die Gemächer ihres Vaters zu schleichen, doch in Anbetracht der späten Stunde und der Ereignisse des Abends würde sie bestimmt aufgehalten werden. Bis zum Morgen würde es ihr nicht gelingen, in seine Nähe zu kommen, und vielleicht nicht einmal dann.
Schließlich kletterte sie auf die unteren Äste der Akazie, die eine der Zimmerecken einnahm. Es war schon eigenartig, so etwas in einem Palast aufzustellen. Leodan hatte ihn Dariel im vorigen Winter zum Geburtstag geschenkt. Der König hatte die Idee gehabt, hatte mit Handwerkern und Zimmerleuten gesprochen und den Baum herbeischaffen lassen, während er mit den Kindern einen Segelausflug nach Alecia unternommen hatte. Als die Kinder nach der Rückkehr alle in Dariels Zimmer traten, sahen sie, dass man den größten Teil einer alten, knorrigen Akazie nach ihrem langsamen Absterben geborgen und im Steinboden verankert hatte. Die Äste wanden sich empor und schienen hier und da mit der Decke und den Wänden zu verschmelzen und sie zu stützen. Er war abgeschmirgelt und die Dornen bis auf kurze Stummel abgeschliffen worden. Das Holz hatte man mit Sandelholzöl rötlichbraun gefärbt. Der Baum war mit bunten Bändern und Blättern aus grüner Seide geschmückt, damit es den Anschein haben sollte, er würde ewig leben. An einigen Ästen waren Plattformen befestigt, von denen Strickleitern, Seile und Schaukeln herabhingen, an denen man sich von Ast zu Ast schwingen konnte. Das alles nur, um einen Jungen mit einem prachtvollen Klettergerüst zu erfreuen. Dergleichen war ohne Beispiel, eine seltsame Extravaganz in einer Kultur, die Kinder im Allgemeinen so lange ignorierte, bis sie alt genug waren, um als Erwachsene gelten zu können. Nicht wenige hatten sich danach über die Verrücktheit des Königs das Maul zerrissen.
Vom gebogenen Stützbalken einer Plattform aus blickte sie sich im Zimmer um. Die schwach glimmenden Wandlampen hüllten den Raum in gelbliches Licht. Dariel schlief ruhig, neben dem Bett stand ein Tablett mit Speisen und Tee, das die Dienstmädchen gebracht hatten. Bei ihrem Erscheinen waren sie zunächst verschreckt umhergeeilt. Wieder und wieder hatten sie sich nach ihren Wünschen erkundigt, doch die einzige Frage, die den Kindern im Moment am Herzen lag, konnten auch sie nicht beantworten. Keine von ihnen wollte auch nur ein geflüstertes Wort über die Verfassung des Königs äußern. Am Morgen werde alles besser aussehen, meinten sie. Der König und seine Leute sollten tun, was getan werden müsse, dann werde alles wieder gut. Hätten sie das nicht so oft wiederholt, hätte Mena ihnen geglaubt. So aber wusste sie, dass nichts von dem, was sie sagten, stimmte. Sonst hatten die Mägde ständig über den König gewispert. Selbst wenn sie in Hörweite war, hatten sie Andeutungen über seine Wünsche gemacht, seine Beweggründe, seine Handlungen. Meistens lagen sie falsch, doch heute war es anders. Sie hatten Angst. Sie waren verwirrt. Und sie logen.
»Was bedeuten
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