Acacia 01 - Macht und Verrat
davon würde sich im hellen Morgenlicht als nächtliches Trugbild erweisen?
Gerade schickte sie sich an herunterzuklettern, als die Tür aufging. Corinn trat zögernd ein und blickte sich im Zimmer um, als wäre es ihr fremd. Sie starrte den schlafenden Dariel an, und eine ihrer Hände hob sich und berührte die Lippen. Sie flüsterte etwas, wie ein abergläubischer Bauer im Angesicht einer Naturgewalt. In ihrer Reglosigkeit wurde sie zu einer Insel der Ruhe, umgeben von Geschäftigkeit. Hinter ihr traten Dienstboten ein und verteilten sich im Raum, um ihn für den Tag zurechtzumachen; sie zogen die Vorhänge auf und löschten die Lampen, trugen das Tablett mit den unberührten Speisen hinaus und brachten ein neues mit Obst und Fruchtsäften.
Als Mena ihr entgegentrat, regte sich Corinn. Ihr Gesicht war fleckig und verquollen, die Lippen weich und zu einem Schmollmund aufgeworfen. »Er wird nicht sterben«, sagte sie. »Das hat er mir selbst gesagt. Er hat mir versprochen, mich nie alleinzulassen. Er hat Mutter versprochen, er würde nicht eher von uns gehen, bis er alle meine Kinder kennen gelernt hätte und sie ihn... Erst wenn er ihnen alles über Mutter erzählt hätte. Er hat gesagt, er würde uns von Mutter erzählen. Wie sie war, als sie jung war und sie geheiratet haben...«
»Du hast mit ihm gesprochen?«
Corinns Hände tanzten erklärend durch die Luft. »Nicht, seit es passiert ist. Er hat mir das vorher versprochen. Ich meine, bevor alldem...«
Da Mena merkte, dass Corinn so weitermachen könnte, fiel sie ihr ins Wort. »Aber was ist jetzt mit ihm? Sag mir, was du weißt. Wie geht es ihm?«
»Was willst du wissen?« Corinns Blick kam nicht zur Ruhe, sondern huschte nervös durch den Raum. »Vater wurde durch einen Messerstich verletzt. Von einem Attentäter der Mein … Es heißt, die Klinge sei vergiftet gewesen, aber das glaube ich nicht. ›Was für ein Gift ist es denn?‹, habe ich gefragt, aber niemand konnte mir Auskunft geben. Sie wissen nichts. Niemand wollte mir die Wahrheit sagen. Und sie wollten mich nicht zu ihm lassen. Nicht einmal Thaddeus wollte mich empfangen! Man könnte meinen, sie wären alle verrückt geworden. Aliver ist zum Rat gerufen worden, als ob Vater schon tot wäre. Aber er ist nicht tot. Ich bin mir sicher, dass er nicht tot ist!«
Sie hat noch mehr Angst als ich, begriff Mena. Sanft ergriff sie Corinns Hand mit beiden Händen und drückte sie. Die Berührung schien Corinn ein wenig zu trösten, denn sie senkte die Stimme und sprach langsamer, den Blick auf die Schulter ihrer Schwester gerichtet. Näher daran, ihr in die Augen zu sehen, als bisher.
»Mena, es war grauenhaft. Ich war dabei. Ich habe den Mann gesehen, bevor er sich als Attentäter zu erkennen gegeben hat. Das ist doch Gurnal, habe ich gedacht. Er sieht jünger aus, als ich ihn in Erinnerung habe. Seltsam, dass mir noch nie aufgefallen ist, wie ansehnlich er ist. Und dann habe ich gesehen, wie er das Messer zog. Was hatte er denn mit einem Messer auf dem Bankett zu suchen? Hätte ich da gleich geschrien... Ich habe nicht begriffen... Ich verstehe überhaupt nichts.«
Mena drückte erneut ihre Hand. Instinktiv spürte sie, dass es besser war, auf eine solche Äußerung nichts zu erwidern, doch irgendetwas gab ihr das Gefühl, dass die Rolle, die jede von ihnen von nun an spielte, nicht mehr dieselbe war. Der Traum fiel ihr wieder ein, und plötzlich wurde ihr klar, dass das Mädchen mit dem Kescher gar keine Fremde gewesen war. Es war Corinn gewesen, eine andere Corinn. Wie war das möglich gewesen? Sie war mit ihrer Schwester dort gewesen und hatte sie doch für einen anderen Menschen gehalten. Es ergab keinen Sinn, doch das galt ja meistens für den schlafenden Verstand. Sie schob die Traumwelt beiseite. Im Moment, begriff sie, war es an ihr, ihre große Schwester zu trösten. Das Problem dabei war, dass sie sie nicht mit Lügen besänftigen konnte, und so dauerte es ein paar stumme, nervöse Augenblicke, bis sie die richtigen Worte gefunden hatte. »Uns wird schon nichts geschehen«, sagte sie. »Wenn Vater...«
»Hör auf!«, fauchte Corinn. Ihre Augen starr auf sie gerichtet, riesengroß und voller Zorn. »Vater wird nicht sterben. Hör auf, dir das zu wünschen! Sag niemals, dass er sterben könnte!«
Mena war entsetzt. Sie hatte es vollkommen falsch angefangen. »Das... das habe ich doch gar nicht gesagt. Das wünsche ich mir doch gar nicht. Es ist alles so erschreckend... Und deshalb...
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