Acacia 02 - Die fernen Lande
Mauern darüber. Er schien von dem Anblick genauso gelähmt zu sein, wie Rialus sich fühlte.
»Die Gilde ist wagemutig«, sagte Sire Neen nachdenklich, »und dem Wagemutigen gehört die Welt, all ihre Reichtümer, all ihre Macht. Dies wird ein wunderbarer Tag.«
18
Dariel versuchte immer noch, sich zu entscheiden, was er tun sollte. Er versuchte, sein Schicksal in die Hand zu nehmen, zu handeln, sich zu behaupten, etwas zu sagen; aber er machte auch immer wieder die Erfahrung, dass er nichts tun konnte. Mit einem Knebel im Mund konnte er nicht sprechen, mit gefesselten Armen und Beinen konnte er sich nicht behaupten, solange die Ishtat-Wachen sich um ihn drängten, konnte er nicht handeln oder sein Schicksal in die Hand nehmen, solange Sire Neen so vollkommen die Zügel führte. Seit seiner Kindheit hatte er sich nicht mehr so ohnmächtig gefühlt, seit dem Tag, da der Mann, der ihn beschützen sollte, ihn in einer verfallenen Hütte in Senival im Stich gelassen hatte, seit jener schrecklichen Zeit, da alles, was er von der Welt wusste, ihm entrissen worden war. Das hier fühlte sich genauso an.
Die Barke hielt auf einen Spalt in einem steinernen Stützpfeiler zu. Sie glitt hinein, als wäre sie ein Teil des Pfeilers, wie ein Mosaiksteinchen. Dariel wurde von den Ishtat vorwärtsgeschoben. Er trat auf die Ketten, die seine Knöchel aneinanderfesselten und wäre gestürzt, wenn der Wächter neben ihm ihn nicht am Ellbogen festgehalten hätte. Der Prinz versuchte, den Knebel auszuspucken, ihn mit der Zunge wegzuschieben. Allzu gern hätte er die Wachen angeschrien, dass sie einen Moment lang aufhören und ihm ein bisschen Zeit lassen sollten, die Welt zu begreifen. Dass sie ihm zumindest diese Freundlichkeit zugestehen sollten. Als er nach hinten blickte, sah er, dass Calrach und die anderen Numrek noch auf der Barke verweilten; sie starrten benommen an den Mauern hinauf.
Dann verließen sie die Barke und trotteten auf ein Tor in der Mauer zu. Dort schloss sich ihnen ein Kontingent anderer Männer an, doch sie waren zu weit von Dariel entfernt, als dass er irgendwelche Einzelheiten hätte erkennen können. Und er hatte auch nicht viel Zeit, es zu versuchen.
Schon bald hatten sich alle in Bewegung gesetzt, gingen durch das Tor und weiter in die Stadt. Sie marschierten breite, gepflasterte Durchgangsstraßen entlang, die in verschiedenen Grün- und Blautönen bemalt waren. Gedrungene Gebäude säumten die Straßen. Sie waren nur zwei oder drei Stockwerke hoch, aber sie sahen schwer aus, dick, mit abgerundeten Kanten und in verschiedenen Rot-, Orange- und Rotbrauntönen gestrichen. Hier und da standen wuchtige Statuen auf den Straßen; sie waren etwa dreißig Fuß hoch und zeigten Posen aus Kampf, Wut und Triumph. Sie sahen eigenartig vertraut aus, gleichzeitig aber auch vollkommen bizarr, denn in ihnen vermischten sich menschliche und tierische Anteile: ein Bärenkopf auf dem Körper eines Mannes, eine aufrecht gehende Echse mit zwei muskulösen, menschlichen Armen, ein glubschäugiges Froschwesen mit aufgeblähter Brust, das auf zwei Beinen stand, eine gehörnte, ein wenig weiblich wirkende Gestalt in einer verdrehten akrobatischen Haltung – auf sinnliche Weise zurückgebogen und in Stein eingeschlossen.
Dariel war nicht der Einzige, der die Statuen anstarrte. So mancher Soldat des Ishtat-Inspektorats tat es ihm mit offenem Mund gleich. Nur die Gildenmänner schafften es, unbeeindruckt zu wirken. Sie schritten mit hochgerecktem Kinn und gelassenen Gesichtern dahin, und ihre Gesten waren so träge, wie ihr Tempo es erlaubte. Gelegentlich sprachen sie miteinander, so laut, dass die anderen es mitbekamen; sie sollten es mitbekommen, denn die Worte sollten der Gruppe zeigen, dass sie noch immer alles unter Kontrolle hatten.
»Seht diesen neuen Ort mit offenen Augen«, riet Sire Neen. »Mit offenen, aber nicht furchtsamen Augen. Man braucht wagemutige Männer, um wagemutig zu handeln – und die Belohnungen zu empfangen. Wir kommen als Partner zu den Auldek. Sie werden erfreut sein.« Trotz seines Hasses ertappte Dariel sich dabei, dass er ihm glauben wollte.
Die Straßen unterhalb der Statuen waren so sauber gefegt wie jeder Fußboden des Hohen Palastes von Acacia, viel ordentlicher als die anderer Städte, wie zum Beispiel Alecia. Und diese Stadt – deren Namen er gar nicht kannte, wie Dariel plötzlich klar wurde – wimmelte von Einwohnern, die mit allen möglichen Arbeiten beschäftigt waren. Einige
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