Acacia 02 - Die fernen Lande
nicht tot; er war ein Gefangener im Körper eines anderen Wesens.
Es gab noch etwas, das sie ganz genau wusste. Sie hatte den Namen des Auldek, der die Seele ihres Bruders erhalten hatte, niemals vergessen. Sie hatte ihn von den Lippen der Lothan Aklun gehört und als Namen erkannt – als etwas, das sich vom Rest der fremden Worte unterschied.
Devoth. Sein Name war Devoth. Eines Tages würde sie an ihn herankommen und ihn ungeschützt vorfinden. Und dann würde sie ihn töten und ihren Bruder freilassen.
28
Während Corinn in ihren privaten Gemächern von ihren Dienerinnen für das Blutmond-Bankett zurechtgemacht wurde, dachte sie über den merkwürdigen Brief nach, den sie von ihrer Schwester bekommen hatte. Es freute sie zu erfahren, dass Mena gesund und munter gefunden worden war. Der oberflächliche, geheimnistuerische Tonfall der Nachricht, die Mena mit einem Botenvogel nach Acacia geschickt hatte, gefiel ihr allerdings weniger. Sie lautete einfach nur: Man hat mich gefunden, Schwester. Alles bestens. Ich habe Flügel! Werde zu dir fliegen. Schau nach oben. Was um alles in der Bekannten Welt sollte das bedeuten? Vielleicht hatte Mena ja doch eine Verletzung erlitten, am Kopf. Doch selbst wenn sie bei klarem Verstand war, schätzte Corinn den triumphierenden Ton der Nachricht nicht. Alles bestens. Nach den Erfahrungen, die Corinn mit dem Herrschen gemacht hatte, war niemals alles bestens. Mena hatte vielleicht alle Übeldinge beseitigt, nur zu bald jedoch würden sie sich mit etwas anderem beschäftigen müssen. Dies würde sie ihrer Schwester einhämmern müssen, wenn sie zurückkehrte.
»Bitte, Herrin«, sagte eine zartgliedrige Dienstmagd, »würdet Ihr die Arme heben?«
Die Königin tat wie geheißen, und die Dienerin schlang ihr Mieder um sie und schloss es. Genau genommen handelte es sich bei ihrem Kleid um eine Variante des Gewandes, das sie der Tradition gemäß beim Blutmond-Bankett tragen musste, bei dem der Niederschlagung des ersten Minenarbeiter-Aufstandes in Crall durch den fünften König Standish gedacht wurde. Eine grausame Tat, die jedoch in den Geschichtswerken gepriesen wurde. Wie alle ihre Kleider hatte Corinn sich auch dieses von den Schneidern genau auf Figur arbeiten lassen, was sein Aussehen beträchtlich veränderte. Sie würde bei dem Bankett kaum etwas essen oder trinken können, so eng lag es an, doch das spielte keine Rolle. Das kastanienbraune Gewand brachte ihre Brüste, ihre Schlankheit und den Schwung ihrer Hüften auf verblüffende Weise zur Geltung, eine herausfordernde Mischung aus uralter Autorität und sinnlicher Schönheit.
Die Worte ihrer Schwester waren nicht die einzigen von einem ihrer Geschwister, die nun in Corinns Kopf herumwirbelten. Sie hatte einen Teil des Vormittags in der Bibliothek verbracht, mit mehreren Bänden, die aufgeschlagen vor ihr auf den großen Holztischen lagen, um wie schon einige Male zuvor ungestört über die Altvorderen zu lesen: über Edifus, der wie ein Wolf mit einer Meute knurrender Widersacher um die Vorherrschaft gekämpft hatte. Über seinen Sohn Tinhadin, der auf dem unsicheren Erbe seines Vaters aufgebaut hatte, indem er sich der Gottessprache bediente, die er so vollkommen beherrschte, dass er irgendwann fürchtete, er könnte sie im Schlaf sprechen und würde beim Erwachen die Welt verändert vorfinden. Über Königin Rabella, die vier Generationen nach Tinhadin zur Macht aufgestiegen war und sie bis zu ihrem Tode in den Händen gehalten hatte, ohne einen König, der sie beherrschte. Sie hatte sechs männliche Gefährten überlebt, aber niemals in eine Heirat eingewilligt. Eine kluge Frau, dachte Corinn, und ein geschichtlich belegtes Argument gegen jene hinterhältigen Emporkömmlinge, die sich durch ihr Bett auf den Thron schlafen wollten.
Sie las diese alten Texte, weil sie erkennen wollte, wie ihre Vorfahren wirklich gewesen waren, wie sie ihre Ziele erreicht hatten und was sie sie lehren konnten. Es lag eine gewisse Ironie darin, doch sie griff in zunehmendem Maße auf jene zurück, die schon lange tot waren, und suchte Rat bei ihnen, während sie ihre Gedanken vor allen um sie herum abschirmte. Sie las auch deshalb, um neue Erkenntnisse über die Santoth zu gewinnen. Aber obwohl sie oft auf Passagen stieß, die von den Zauberern handelten, hatte sie nie das Gefühl, dass sie sie danach besser verstand. Sie blieben schattenhafte Gestalten, wie Wesen, die ganz am Rande ihres Blickfelds standen.
Heute Morgen jedoch war
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