Acacia 02 - Die fernen Lande
eines Felsvorsprungs an. Die Frau führte sie an Land und eine Treppe hinauf, die aus der Klippe gehauen worden war. Ravi umklammerte noch immer Mórs Hand, und als die Frau vor einem abgedunkelten Eingang stehen blieb und ihnen zuwinkte, dass sie eintreten sollten, gingen sie zusammen hinein, Seite an Seite. Und so betrat sie den Raum, an den sie sich für den Rest ihres Lebens jeden Tag aufs Neue erinnern sollte. So schritt sie auf ihren eigenen zwei Beinen in den Rachen des Seelenfängers.
Skylene tauchte im Türrahmen auf. Sie stand einen Augenblick da und sah Mór stirnrunzelnd an; ihre Augen waren sanft, auch wenn sie ihre dünnen Lippen missbilligend schürzte. Unter ihrem blassen, himmelblauen Antlitz verbargen sich Gesichtszüge aus den Waldgebieten von Eilavan in der Bekannten Welt. Es war unwahrscheinlich, dass jemand, der dort lebte, sie als Verwandte erkannt hätte, nicht mit ihrer unnatürlichen Hautfarbe, mit einer Nase, die durch ein Implantat in Schnabelform gestreckt worden war, mit dem zerzausten Gefieder, das wie eine in ihrem Haaransatz verankerte Krone in die Höhe ragte. Sie mochte im Herzen des Reiches geboren worden sein, jetzt jedoch war sie als Sklavin der Kern gekennzeichnet, jenes Clans, der das südliche Delta seine angestammte Heimat nannte und den Blauen Kranich als Totem-Gottheit verwendete.
Sie ist schöner als jeder Kranich, dachte Mór, und dann war es ihr verhasst, dass sie das schon wieder gedacht hatte, wie schon bei so vielen Gelegenheiten zuvor. Wie schrecklich, dass die Qualen, die die Auldek sie durchleiden ließen, auch zu Veränderungen führten, die sie zu lieben lernten. Sie wandte den Blick ab.
Skylene trat zu ihr. Sie legte Mór die Arme um den Hals und drückte ihren Körper mit den kleinen Brüsten gegen den Rücken ihrer Geliebten. »Du hättest ihn nicht so schlagen sollen«, sagte sie.
»Ich weiß.«
»Er kann nützlich für uns sein. Yoen und die anderen Ältesten haben gesagt …«
»Bist du hier, um mich zu tadeln?«
Skylene fasste Mórs Kinn mit den Fingern und drehte ihren Kopf zu sich herum, dann beugte sie sich vor und küsste sie auf den Mund. Mór öffnete sich ihr, hungerte nach ihr, dachte ein paar Augenblicke lang an nichts anderes als daran, wie sich die Lippen und die Zähne ihrer Geliebten anfühlten. Sie schob ihre Zunge zwischen sie und spürte den willkommen heißenden Reichtum dahinter.
Nur allzu rasch wich Skylene wieder zurück. Sie strich sich mit den Fingern über die Stirn und die Federbüschel, die von ihrem Haaransatz aufragten. »Nein, ich bin hier, um dir zu sagen, dass er wieder wach ist und bei Verstand. Ich habe Tunnel bei ihm gelassen. Er scheint sich gern mit ihm zu unterhalten.«
»Das wird ihm kaum helfen, sich zu erholen«, bemerkte Mór trocken. »Hast du ihn befragt?«
»Er erzählt eine seltsame Geschichte. Er behauptet, er sei verraten worden. Er sei als Gesandter seiner Schwester gekommen, der Königin. Er sagt, die Gildenmänner hätten ihn in Ketten gelegt. Sie sollen die Lothan Aklun irgendwie vergiftet haben und wollten ein neues Handelsabkommen mit den Auldek abschließen. Er sagt, die Gilde habe ihn den Auldek übergeben wollen, aber dann sei irgendetwas passiert, und die Numrek hätten sie alle verraten. Es scheint zu dem zu passen, was ich gesehen habe. Und du hast ja gehört, was die Späher über das Meer gesagt haben. Es sind keine Schiffe der Aklun zu sehen. Was auch immer geschehen ist …«
»Was auch immer geschehen ist, ist immer noch vollkommen unübersichtlich. Noch ergibt das alles keinen Sinn. Die Numrek … was haben diese abscheulichen Gestalten wieder hier zu suchen?«
Skylene versuchte weder, ihr zu widersprechen noch die Frage zu beantworten. »Dariel sagt, er sei nicht für die Quote gewesen. Er sagt, er hätte nach einer Möglichkeit gesucht, den Quotenhandel einzustellen und mit anderen Dingen zu handeln – nicht mit Sklaven.«
Mór lehnte ihren Kopf zurück, gegen Skylenes Brust. »Du nennst ihn jetzt beim Vornamen? Sag bloß nicht, du glaubst ihm. Wie viele Jahre haben sie uns in die Sklaverei verkauft? Wie viele Tausende sind dem zum Opfer gefallen? Generationen – und er erwartet, dass wir glauben, dass der Erste, den wir erwischen, uns nur erlösen wollte? Sie lügen besser als du, Skylene. Lass dich davon nicht täuschen.«
»Tunnel mag ihn«, sagte Skylene nach einem Augenblick der Stille. »Er hält ihn schon für den Rhuin Fá.«
»Aufgrund welcher
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