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Acacia 02 - Die fernen Lande

Acacia 02 - Die fernen Lande

Titel: Acacia 02 - Die fernen Lande Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Anthony Durham
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dem Treffen gestoßen war. Er wusste natürlich, dass man kein Wort für wahr halten durfte, das ein Vertreter der Gilde sagte. In jeder Frage, jedem Blick und jeder Artigkeit hatte er gespürt, dass die beiden Männer so in Täuschungen verstrickt waren, dass ihre Worte nur den Anschein von Wahrheit hatten. Doch all das war vollkommen normal. Jeder, der sich auch nur einigermaßen mit der Gilde auskannte, wusste das. Was Rialus jedoch sah, befand sich auf der Spitze von Sire Neens rosafarbener Zunge, als sie über seine Zähne glitt. Rialus hätte nicht genau erklären können, woher er das wusste, aber sein überragendstes Talent war eine unheimliche Fähigkeit, Täuschungen zu erkennen. Wer kann schon die Gaben erklären, die der Schöpfer einem schenkt?
    Neen, ging es Rialus auf, verbarg etwas, er plante etwas auf eigene Faust. Er wandte den Blick von ihm ab, ehe Neen bemerkte, dass er ihn beobachtete, doch er hielt das Bild in seinen Gedanken fest und betrachtete es eingehend.

6

    »Fragst du dich eigentlich manchmal, wie die Welt wohl sein würde, wenn Aliver noch leben würde?«, fragte Melio.
    »Natürlich«, sagte Mena. »Du weißt doch, dass wir alle das tun.«
    »Ja «, stimmte Melio zu. »Wir alle tun das.«
    Er zog sie mit dem Arm, den er ihr bereits um die Schultern gelegt hatte, näher zu sich heran. Kurz vor der Morgendämmerung lagen sie beieinander, die nackten Körper aneinandergeschmiegt. Sie hatten sich gerade geliebt, sich auf jene stumme, spontane Weise vereinigt, zu der sie oft in den ruhigen Stunden getrieben wurden, ehe sie sich wieder den Gefahren zuwandten. Obwohl beide nichts gesagt hatten, seit sie sich am Abend zuvor eine gute Nacht gewünscht hatten, wirkte Melios Frage wie die Fortsetzung eines schon vor längerer Zeit begonnenen Gesprächs.
    Er fuhr fort: »Was wäre, wenn er den Handel mit den Quotensklaven wirklich abgeschafft hätte? Wenn er wirklich alle Völker befreit hätte, so dass sie sich selbst regieren könnten? Kannst du dir das vorstellen? Ich weiß, in mancherlei Hinsicht würde das reichlich verwirrend sein, aber es hätte auch wunderbar sein können. Aber Corinn hat das alles verraten. Deine Schwester, die Rose mit den Reißzähnen. Sie macht mir ziemlich Angst, Mena, weißt du das?«
    »Du verstehst sie nicht.«
    »Verstehst du sie denn?«
    Mena zuckte die Schultern. »Ich habe sie nicht immer verstanden. Und … nein, ich verstehe sie auch nicht ganz. Aber ich weiß, dass sie sich Mühe gibt. Sie gibt sich viel mehr Mühe als du ahnst zu tun, was richtig ist. Es sieht vielleicht nicht so aus wie das, was Aliver getan hätte, aber sie ist uns – dem Reich – nicht weniger ergeben.«
    »Vergib mir, Mena, aber mir scheint, besonders ergeben ist sie ihrem Wunsch, eisern an der Macht festzuhalten.«
    Mena schwieg einige Zeit und überlegte, ob sie antworten sollte. Über ihre Schwester zu sprechen, fühlte sich immer ein bisschen wie Verrat an, ob sie sie nun kritisierte oder lobte. Bestimmt hätte zumindest Corinn selbst es so gesehen. Doch ein Teil ihres Herzens gehörte auch Melio. Er gab ihr so viel und hatte es verdient zu wissen, wie sie empfand.
    »Ich will, dass du etwas verstehst«, sagte Mena. Sie begann langsam, suchte nach den richtigen Worten, prüfte sie erst, um sicherzugehen, dass sie auch die Wahrheit sagte. »Corinn ist stark. Das weißt du. Aber sie hat auch große Angst.«
    »Die Rose mit den Reißzähnen hat Angst?« Melio lachte. »Das glaube ich nicht. Ich habe gesehen, wie sie Kriegern ins Gesicht gestarrt hat, als wäre sie drauf und dran, ihnen die Nase abzubeißen.«
    Mena brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Ich habe gesagt, sie ist auch stark, aber du musst wissen, dass Stärke … nun, Stärke entspringt unterschiedlichen Quellen. Sie hat unterschiedliche Wurzeln in verschiedenen Menschen. Bei Corinn sind diese Wurzeln Angst.«
    »Angst wovor?«
    »Allein zu sein. Nicht geliebt zu werden. Zu sterben. Nein, lach nicht. Manches davon habe ich schon als junges Mädchen über sie gewusst. Als unsere Mutter gestorben ist, hat Corinn sich gefühlt, als wäre ein Teil von ihr selbst gestorben. Alle Welt hatte immer gesagt, sie sei unsere wiedergeborene Mutter. Ihre Zwillingsschwester. Sie war die Schöne.« Melio setzte zu einer spöttischen Bemerkung an, aber sie schnitt ihm das Wort ab. »Nein, hör mir zu. Als unsere Mutter gestorben ist, hat Corinn gespürt, dass sie einen Teil von sich verloren hat. Und dann … ich weiß

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