Acacia 02 - Die fernen Lande
…«
»Du hast meine Frage beantwortet«, sagte Corinn und ließ sich aus dem Sattel gleiten. Sie wirkte vollkommen beherrscht, wie sie da auf dem Boden stand; ihre cremefarbenen Hosen – so geschnitten, dass sie wie ein Rock aussahen – waren so faltenlos wie zu Beginn des Rittes. Sie bückte sich und hob einen Kieselstein auf, betrachtete ihn genau und umschloss ihn dann mit der Hand. »Ich will, dass ihr alle hier wartet. Niemand darf sich mir nähern, während ich in dem Becken bin, ganz egal, was geschieht. Verstanden?« Anfangs antwortete ihr Schweigen, gefolgt von einem Trommelfeuer aus halb formulierten Fragen. Sie übertönte sie alle und sah dabei ihren Sohn an. »Aaden, das gilt auch für dich. Numrek, ihr bleibt ebenfalls hier. Ich bin gleich zurück.« Nach diesen Worten trat sie über den Rand und machte sich daran, vorsichtig in das Becken hinunterzuklettern.
Sie musste sich mehrmals festhalten, um nicht hinzufallen, und presste die Handfläche auf die raue Erde, wenn ihre Füße abrutschten, wobei sie sorgsam darauf achtete, den Kieselstein nicht zu verlieren, den sie in der anderen Hand hielt. Die Grube war tiefer, als sie gedacht hatte. Als sie auf dem Grund angekommen war, warf sie einen Blick nach oben, zu den Gestalten, die sich am Rand versammelt hatten. Sie schienen sehr weit weg zu sein. Aaden hob den Arm, um ihr zuzuwinken. Sie drehte sich um und ging weiter. Wieder dauerte es länger, als sie erwartet hatte, bis sie die Mitte des Beckens erreichte. Die ganze Zeit fühlte sie die Blicke der Männer.
Die Herzquelle war eine Narbe in der Erde, gerade breit genug, dass sie hätte hineinspringen und in ihre Tiefen stürzen können – einfach nur ein Loch mit gezackten Rändern, die sich rasch im Schatten verloren. Als sie es ansah, hatte Corinn einen kurzen Augenblick lang das Gefühl, es sei der gekräuselte Schlund einer wurmähnlichen Kreatur, die im steinharten Boden feststeckte und um Feuchtigkeit bettelte. Beherzt trat sie dicht an das Loch heran, achtete darauf, dass sie fest und sicher stand, und sang. Sie öffnete den Mund und stieß die ersten Worte aus, die ihr in den Sinn kamen.
Es war, als wäre das Lied bereits in der Luft gewesen und sie hätte sich in dem Moment, da sie zu singen angefangen hatte, einfach nur dazugesellt. Sie kannte die rechten Worte, die richtigen Noten, das Tempo und den Rhythmus, die Dauer und die Betonung in genau dem Augenblick, da diese Dinge in ihren Mund kamen und ihn wieder verließen. Sie erinnerte sich nicht daran, was sie gesungen hatte, sobald es vorbei war, und sie wusste auch vorher nicht, was sie singen würde. Es gab keine geradlinige Entwicklung. Sie folgte den Worten oder den Noten nicht so, als stünden sie auf einem Blatt geschrieben. Sie war das Lied, veränderte sich in jedem Augenblick mit ihm.
Und das Lied war schön. Sie wusste, dass es schön war. Seit der Erschaffung der Welt hatte nichts die Schönheit so vollkommen in Klang eingefangen wie das hier. Sie spürte, wie ihr Körper von den Bändern aus Gottessprache, die um sie herumwirbelten, gezogen und geschoben wurde. Die Bänder liebkosten sie, zupften an ihr, entzogen ihr ein paar Stückchen ihres Wesens, ließen sie durch die Luft treiben und gaben sie ihr verändert zurück. Und auch wenn sie das Lied nicht kontrollieren konnte, flößte sie ihm ihr Vorhaben ein. Sie erklärte – und benutzte dabei die Worte, die unaufgefordert zu ihr kamen –, was sie sich wünschte, worum sie bat, was sie brauchte. Dies alles sang sie in das Lied, und sie konnte spüren, wie ein gegenseitiges Verständnis zwischen ihr und der wirbelnden Musik entstand.
An der Stelle, an der sie den Drang dazu verspürte, hob sie den Arm, öffnete die Hand, und ließ den Kieselstein in die Quelle fallen, wobei sie die ganze Zeit sang. Ein Hauch erhitzter Luft stieg aus der Quelle auf, als erwache die Wurmkreatur hustend zum Leben. Corinn machte einen halben Schritt nach rückwärts, nahm wieder einen festen Stand ein und sang unbeirrt weiter. Ein paar Augenblicke später keuchte, gurgelte und hustete die Quelle erneut. Corinn fühlte einen Sprühnebel aus Dampf daraus aufsteigen, der augenblicklich in der Sonne verdunstete. Sie sang weiter.
Als das Wasser schließlich aus dem Loch hervorsprudelte, war es anfangs schlammig. Es versickerte im durstigen Boden. Ein paar Augenblicke lang sah es so aus, als würde der Rand des Lochs alles aufsaugen. Bald jedoch begann das Wasser sich
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