Acacia 02 - Die fernen Lande
vorwärtszuwälzen, trug Dreck und Asche vor sich her, ein Fleck auf dem Boden, den die Zuschauer deutlich sehen mussten. Es floss in alle Richtungen. Corinn spürte, wie es ihre Zehen berührte und nach dem Saum ihres Hosenrocks griff. Sie sang weiter. Sie hörte die Kaufleute oben auf dem Rand des Beckens rufen. Ein Numrek rief ihren Namen, doch sie sang weiter.
Jetzt begann Wasser mit Macht aus dem Loch zu strömen und schoss ein paar Fuß hoch in die Luft. Es bespritzte die Vorderseite ihres Kleides und reichte ihr bis über die Knöchel, schwappte um ihre Füße. Sie sang weiter, spürte nicht, wo das Ende des Liedes sein mochte. Vage kam ihr in den Sinn, dass sie vielleicht nicht in der Lage sein würde aufzuhören. Es war möglich, dass sie immer noch hier stand, mit offenem Mund, wenn das Wasser in sie hineinströmte und sie füllte. Doch dieser Gedanke war nicht beängstigend. Wenn das Lied in ihr war, war nichts beängstigend. Es gab nichts, nichts, nichts zu befürchten.
Und dann verstummte sie. Einfach so. Ihre Lippen hielten inne, und kein Laut kam mehr über sie, und sie wusste, dass sie fertig war. Das Wasser floss immer noch weiter, der Strom wurde sogar noch kräftiger. Sie trat zurück und empfand nun, da sie ihr Werk mit klarem Blick betrachten konnte, Ehrfurcht angesichts des Wunders, dass an diesem Ort wieder Wasser existierte. Sie konnte es in der Luft schmecken. Es schmeckte scharf und kalt, als stünde sie neben einem Gebirgsbach, einem anschwellenden Gebirgsbach.
Sie drehte sich um und watete mit aller Anmut, zu der sie fähig war, auf die Kaufleute zu. Als sie den Rand erreichte, atmete sie schwer, doch sie ließ ihnen keine Zeit, sie zu mustern. »Tretet vom Rand zurück«, befahl sie. »Tretet zurück! Kniet nieder und verbeugt euch.«
Die Männer sahen überrascht aus, sogar verängstigt, doch einer nach dem anderen gehorchte ihrem Befehl. Einige mussten absteigen, aber das taten sie rasch. Schon bald kniete die ganze Gesellschaft – Kaufleute, Adlige, Arbeiter, und die zerlumpten Kinder – rings um sie herum auf der Erde, wartend, aufgeregt, hin- und hergerissen zwischen der Forderung, ihr zu gehorchen, und dem Wunsch, das Wasser steigen zu sehen. Nur die Numrek standen noch aufrecht, die Waffen in den Händen; sie sahen aus, als wären sie bereit, auf die Kaufleute loszugehen und sie niederzumetzeln. Heute nicht, dachte Corinn.
Sie stand da, kam langsam wieder zu Atem, hielt den Augenblick fest, nutzte ihn. Aaden saß noch immer auf seinem Pferd. Sie sah ihn lange genug an, um mit ihrem Lächeln seine Befürchtungen zu vertreiben. In einer nur für ihn bestimmten Geste verdrehte sie die Augen, wie um zuzugeben, dass das alles hier furchtbar albern war – und hätte dabei beinahe das Gleichgewicht verloren. Sie gab ihm ein Zeichen, dass er absitzen und neben sie treten sollte. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die gesenkten Köpfe.
»Seid ihr mir treu ergeben?«, fragte Corinn.
»Natürlich«, antwortete der Anath-Älteste.
»Warum?«
»Ihr seid unsere Königin.«
»Seid Ihr der Einzige, der so denkt?«
Daraufhin sprachen die anderen, priesen sie, übertönten einander; manche beugten sich vor wie Gläubige. Genau das hatte sie gewollt, doch der Anblick verdross sie auch. Jetzt hatten sie Angst, die Feiglinge. »Fragt nicht, wie ich das vollbracht habe, aber seht, dass ich allein es war, die es getan hat. Sagt die Wahrheit, wenn ihr hiervon sprecht. Solange es mein Wille ist, wird das Wasser steigen und steigen und niemals aufhören. Es wird das Becken füllen und abermals füllen, wenn ihr die Tore öffnet und es den Feldern zuführt. Diese Herzquelle gehört ganz Bocoum. Ich möchte nicht erfahren, dass einer von euch sie sein Eigen genannt oder anderen vorenthalten hat. Ihr könnt jetzt aufblicken.«
Corinns Blick wanderte von einem zum anderen, verharrte kurz auf jedem Einzelnen, sprach zu ihnen allen – Alten und Jungen, Reichen und Armen – mit derselben Autorität. Vorher mochte es in den verborgenen Gedanken und Gefühlen hinter den verschiedenen Gesichtern viel zu lesen gegeben haben. Jetzt hingegen sahen sie alle gleich aus. Sinper Ou machte das gleiche erstaunte Gesicht wie der Junge, der ein kleines Stück hinter ihm kniete. Das Gesicht des Anath-Ältesten erinnerte an feuchten Lehm, auf den sie schreiben konnte, was sie wollte.
»Ich bin nicht nur die Mutter dieses Kindes. Ich bin die Mutter Acacias. Sagt es. Sagt, dass ich die Mutter Acacias
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