Acacia 02 - Die fernen Lande
sie nicht mehr zornig oder aufgeregt oder ängstlich, sondern nur noch neugierig. Die Kreatur hatte knotige Auswüchse hoch oben auf dem Rücken und die Andeutung von violetten Haubenfedern an ihrem langen Hals. Trotz dieser für Vögel typischen Merkmale war sie zugleich reptilartig. Ihr Körper war langgestreckt und echsenähnlich, mit einem Schwanz, der sich zu einer dünnen Spitze verjüngte. Mena wurde klar, dass ihr zum ersten Mal nicht so entsetzlich übel war, wie es bei den anderen Übeldingen stets der Fall gewesen war. Plötzlich wollte sie dieses Wesen beobachten, es studieren, wollte die langsam vorwärtskriechenden Armbrustschützen zurückrufen und sich noch einmal besinnen. Sie kam nicht dazu.
Am Ende verriet sie kein Geräusch, sondern die Brise. Der Wind drehte. Mena spürte es; sie spürte, wie der Wind spielerisch einen Arm ausstreckte, über sie hinwegstrich, ihren Geruch mitnahm und ihn zu der Kreatur hinübertrug. Auch die anderen mussten es bemerkt haben. Sie standen wie erstarrt mit weit aufgerissenen Augen da und hielten den Atem an.
Das Tier hörte auf zu fressen. Sein Kopf sank ein paar Fuß herab, dann hob es die Schnauze und sog die Luft durch lautlos geblähte Nüstern tief ein. Ohne den Körper zu bewegen, drehte es den Kopf und blickte über seinen Rücken; sein Hals war so biegsam wie der einer Schlange. Es sah sie. Mena wusste, dass es sie sah, weil es genau zu ihnen herabschaute, und weil seine Augen größer wurden.
Sie waren nahe genug, entschied Mena. Sie hob die Hand, um den Armbrustschützen ein Zeichen zu geben, doch dann wurde ihr klar, dass diese es vielleicht gar nicht sehen würden, weil sie nur den Echsenvogel anstarrten. Vielleicht sahen ihre Männer sie nicht, das Tier jedoch tat es. Seine Augen zuckten zu ihr herum, begegneten den ihren, und das Tier hielt Menas Blick mit einer Intensität fest, die gleichermaßen tierisch wild und intelligent war. Noch einmal wünschte sich Mena, sie könnte von ihrem Vorhaben ablassen. Sie hätte nicht genau sagen können, warum. Das hier war ein Übelding. Es war unnatürlich. Es war eine Bedrohung, die nicht in diese Welt gehörte. Wenn sie bisher einer der mutierten Bestien in die Augen geschaut hatte, hatte sie jedes Mal entartete Böswilligkeit gesehen, die ausgelöscht werden musste. Das war nicht das, was sie jetzt vor sich sah. Sie brauchte Zeit, um zu …
Auf die Bewegung mehrerer Armbrustschützen hin, die auf sie zielten, wirbelte die Kreatur jäh herum. Sie riss das Maul auf und zischte, und das Gefieder an ihrem Hals sträubte sich, umrahmte ihren Kopf mit einer violetten Federmähne. Wild schüttelte das Geschöpf den Rumpf und rückte dabei vor. Die Knoten auf seinem Rücken barsten auf und entfalteten sich seitwärts. Das alles ging so schnell, so dramatisch vor sich, dass es Mena, die ihren Leuten gerade einen Befehl erteilen wollte, die Sprache verschlug. Flügel! Das Wesen hatte tatsächlich Flügel! Sie entfalteten sich, als wären die Knochen die Gelenke einer zusammengerollten Peitsche. Jedes kurze Knochenstück rastete mit einem hörbaren Schnappen und Knacken ein. Es dauerte nur eine oder zwei Sekunden, doch in dieser kurzen Zeitspanne hatte die Kreatur sich vollkommen verwandelt. Ihre Schwingen streckten sich über die Baumkronen, gewaltig und grazil zugleich. Die Flügelknochen waren fingerdünn, bildeten einen Skelettrahmen für eine Membran, die so durchsichtig war, dass Mena die Welt durch sie sehen konnte. Das Wesen sprang in die Luft.
»Schießt!« Mena fand ihre Stimme wieder. »Lasst es nicht entkommen! Schießt es ab!«
Armbrustbolzen, von denen Taue herabtrudelten, flogen hinter dem Tier her. Mehrere gingen daneben. Ein paar blieben in den Bäumen hängen. Einer durchbohrte die Flügelmembran der Kreatur. Zwei trafen sie in den Bauch. Einer grub sich tief in ihren Oberschenkel. Ein anderer traf ihren Hals. Die Kreatur verlor ihren Aufwärtsschwung. Einen Augenblick lang hing sie in der Luft, ein verwirrtes Ziel, das von einem weiteren Bolzen getroffen wurde. Sie krümmte sich zusammen; das Maul hatte sie weit aufgerissen, als würde sie brüllen, doch es war kein Laut zu hören. Sie schlug so heftig mit den Flügeln, dass Zweige abbrachen und es Orangen regnete. Dieser eine Flügelschlag ließ sie emporsteigen, zerrte an den Leinen, mit denen sie gefesselt war. Die Taue spannten sich, rissen die Steine vom Boden hoch. Die Anker krachten durch Zweige und prallten von Baumstämmen ab. Einer
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