Acacia 02 - Die fernen Lande
ihn. Das war die Größe einer Gemeinschaft, die sich für ihn richtig anfühlte. Er fragte sich erneut, warum Sangae ihn herzitiert hatte.
»Der Hafen von Bocoum an einem Sommertag«, sagte eine Männerstimme. Kelis zuckte überrascht zusammen. Er drehte sich um und sah einen Mann auf sich zukommen, der ungefähr in seinem Alter sein mochte und in ein vornehmes, knöchellanges blaues Gewand gekleidet war. »Prachtvoll, findest du nicht?«
»Ja«, sagte Kelis. Das war nicht im eigentlichen Sinne eine Lüge, aber ziemlich dicht dran.
»Gut.« Der Mann lächelte. Sein ansehnliches Gesicht wies die typischen breiten Züge der Bewohner von Nord-Talay auf. Er war so groß wie Kelis und ebenfalls schlank, allerdings waren Brust und Schultern wesentlich muskulöser. Dieser Mann war kein Läufer, aber er war auf andere Weise gut in Form und trug eine selbstbewusste Anmut zur Schau. Plötzlich schien er sich an die üblichen Förmlichkeiten zu erinnern, denn er neigte den kahl geschorenen Kopf. »Neuer Freund, die Sonne scheint auf dich, aber das Wasser ist süß«, sagte er.
»Das Wasser ist kühl, neuer Freund, und klar anzuschauen«, antwortete Kelis. Die Worte kamen ihm von ganz allein über die Lippen.
»Es wäre doch schön, wenn diese Worte wahr wären, nicht? Manchmal fürchte ich, bei unseren Grußworten geht es vor allem darum, wie wir uns die Welt wünschen, und nur wenig darum, wie sie tatsächlich ist.« In Anbetracht der Pracht des Gebäudes, in dem sie sich befanden, fragte sich Kelis, worüber der Mann sich zu beklagen hatte. »Ich bin Ioma. Sinper Ou ist mein Vater, und in seinem Namen heiße ich dich willkommen, Kelis aus Umae. Mein Vater und Sangae werden in Kürze hier sein – zusammen mit der, die du kennenlernen sollst.« Er deutete auf das Tablett, das ein Diener soeben auf einem kleinen Tisch abgestellt hatte. »Bitte, trink.«
Die durchsichtige Glaskanne enthielt gekühlten Saft, der so gefroren war, dass es klirrte, als der Diener etwas davon in ein Glas goss. Kelis hielt den Becher in der Hand und sah zu, wie Dampf daraus aufstieg. Er hatte keine Ahnung, wie sie es schafften, den Saft so stark zu kühlen, wollte aber auch nicht fragen. Er führte das Glas an die Lippen und trank. Der Saft war zu kalt, unnatürlich kalt.
»Eine wunderbarer Aussicht, nicht wahr?«, fragte Ioma. »Unsere Vorfahren haben generationenlang auf diesen Hafen hinausgesehen, noch bevor die Acacier ihre erste Festung auf Acacia erbaut haben. Ob Acacia sich wirklich daran erinnern will, ist etwas anderes, wir aber sollten es nicht vergessen. Jetzt ist das sogar noch wichtiger. Siehst du das da drüben?« Der Kaufmann streckte einen Arm aus und deutete auf etwas.
Kelis benötigte nur einen Moment, um zu entdecken, worauf Ioma zeigte. Weiter unten bei den Klippen, unweit des östlichen Randes der Bucht, stand eine Ansammlung von großen, bunt bemalten Gebäuden mit protzigen Turmspitzen, die wie plumpe, rot funkelnde Knoblauchknollen aussahen.
»Die Akademie des Königs.« Ioma sprach die offizielle Bezeichnung aus, als widere sie ihn an. »Sie sollte die Vergessensanstalt der Königin genannt werden.«
»Dann hältst du also nichts davon?«
Ioma stupste ihn gegen die Schulter; es war eine vertrauliche Geste, die unhöflich gewesen wäre, hätte sein Gastgeber sie nicht so beiläufig gemacht. »Treib keine Scherze mit mir, mein Freund. Du kennst den Zweck dieses Ortes? Es ist nicht Bildung, ganz und gar nicht. Es ist Einschränkung. Es heißt, sie suchen sich die klügsten Schüler aus allen Provinzen aus. Aber warum sind diese ›klügsten‹ Schüler zufällig immer die Kinder bedeutender Familien? Warum werden sie sogar dann ausgewählt, wenn ihre Eltern sie gar nicht angeboten haben? Ich weiß, dass du den Akarans dienst; ich möchte mir dich nicht zum Feind machen.« Er hielt inne, als überlege er, wie groß diese Gefahr war, dann zuckte er die Schultern und fuhr fort. »Aber du bist auch ein Talaye. Das da drüben ist ein Geisellager. Erstens – und vor allem – sind die Kinder Geiseln. Zweitens wird ihnen die Wahrheit aus dem Hirn geschrubbt und dann mit der Geschichte der Welt gefüllt, so wie Corinn sie erzählt haben will. Zwei meiner Neffen und eine Nichte sind dort, außerdem noch ein Vetter. Sie erzählen mir alles. Wenigstens ist das Ganze hier, in Bocoum. Meine Verwandten sind nur tagsüber Geiseln. Nachts haben wir Gelegenheit, ihnen diese Bildung wieder zu nehmen.«
Kelis sagte nichts, was Ioma
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