Acacia 02 - Die fernen Lande
wusste Kelis, dass in seinem Heimatland so manches nicht in Ordnung war. Die Übeldinge waren ein Anzeichen dafür, aber nicht das einzige.
Naamen bewegte sich im städtischen Gewimmel von Bocoum genauso geschickt wie in der weiten Savanne. Kelis folgte dem jungen Mann, der so geschmeidig durch die Menge schlüpfte wie ein Aal durch ein Korallenriff. Im Prinzip war die Stadt, die sich, von Strebepfeilern abgestützt, mehrere Meilen entlang der Küste erstreckte, der Regierungssitz der Provinz Talay; allerdings war jegliche zentrale Kontrolle wegen der mannigfaltigen Stämme der Region schon immer nur sehr locker gewesen. Entscheidender war, dass Bocoum auch das landwirtschaftliche und kaufmännische Zentrum von Talay war. Es wimmelte von Kaufleuten, Händlern und Handwerkern; von Lebensmitteln, Lagerhäusern und luxuriösen Anwesen. Nichts davon interessierte Kelis. Von Mauern, Gebäuden und vielen Menschen umgeben, fühlte er sich nicht richtig heimisch und fand es obszön, wie übertrieben die Stadtbevölkerung mit ihrem Reichtum protzte. In der Vergangenheit hatte er die Stadt immer nur eilig durchquert, weil er den einen oder anderen Auftrag zu erledigen gehabt hatte. Er hatte nicht vor, dass es dieses Mal anders sein sollte.
»Da ist es«, sagte Naamen und deutete mit seinem verkrüppelten Arm.
Kelis brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, was er meinte. Sie waren auf einer der von mehrstöckigen Gebäuden gesäumten, geschäftigen Hauptstraßen des Stadtzentrums herausgekommen. Während sie weitergingen, entdeckte Kelis auf dem Wappen über einem Torhaus am Ende der Straße das geschnitzte Bildnis eines Löwen. Es war der Ou-Löwe, kein echtes Totemtier, aber unverwechselbar, da der Löwe aufrecht stand und sein Körper mehr menschlich als katzenartig aussah. Den Kopf umgab allerdings eine gewaltige Mähne, und das Maul der Großkatze war zu einem immerwährenden Gebrüll aufgerissen. Das Torhaus hätte ein Nebeneingang zu einem acacischen Palast sein können, so prächtig war der behauene Torbogen aus Granit. Zwei Wachen standen aufrecht zu beiden Seiten, mit langen Piken, deren Ende sie vor sich auf den Boden stützten und deren Spitzen weit über ihre Köpfe hinausragten.
»Man könnte glauben, sie wären von königlichem Blut«, murmelte Kelis.
Naamen drehte sich um und sah ihn mit seinen fröhlichen Augen an. »Oh ja, und glaub mir, die Ous halten sich auch für königlich. Immerhin muss man sich nicht vor ihnen verbeugen. Zumindest noch nicht.«
Die Torwachen hielten sie etliche Minuten lang auf, bis ein Sekretär kam, der Naamen schroff entließ und Kelis anschließend durch die kunstvoll angelegten inneren Gärten führte. Sie schritten um Fischteiche herum, unter Palmen und zwischen Reihen aus blühenden Büschen hindurch. Im Innern des Hauptgebäudes setzte sich die Verschwendungssucht fort. Kelis – der den größten Teil der letzten Jahre in Lagern verbracht und auf Matten auf dem nackten Boden geschlafen hatte – fühlte sich von den mit Wandbehängen geschmückten Wänden, der weihrauchgeschwängerten Luft, dem dicken Teppich unter seinen Füßen und den vielen Möbelstücken in dunklem Rot und Gold förmlich umzingelt, als säße er in einer kunstvollen Falle. Er musste tief durchatmen, um sich seinen rasenden Herzschlag und den Wunsch wegzulaufen, nicht anmerken zu lassen.
Der Sekretär führte ihn in einen Raum voller Liegen und verzierter Sessel und forderte ihn auf, Platz zu nehmen und sich zu entspannen. Kelis beäugte eine mit Zebrafellen bedeckte Liege. Er setzte sich nicht, sondern trat stattdessen hinaus auf den Balkon und sog tief die salzgeschwängerte Luft ein. Vor ihm erstreckte sich das Innenmeer bis zum Horizont; Schiffe in allen Formen und Größen sprenkelten die grüne Wasserfläche. In der Ferne schwammen große Handelsbarken im Wasser, die beinahe wie merkwürdig geometrische Inseln aussahen. Kelis lehnte sich auf die Brüstung und ließ den Anblick des Hafens und der Küstenlinie mit ihren Reihen um Reihen von Gebäuden mit weißen Dächern auf sich einwirken. Sie standen so dicht beieinander, dass sie wie eine Menschenmenge aussahen, die sich darum drängte, sich ins spiegelglatte Meer zu stürzen.
Wie viele Menschen lebten in dieser Stadt? Kelis hatte keine Ahnung. Die Zahl hätte wahrscheinlich so oder so keine Bedeutung für ihn gehabt. Wie sehr unterschied sich das hier doch von einem Dorf wie Umae, wo er jeden Erwachsenen mit Namen kannte und jedes Kind
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