Accelerando
eingelassen sind. Ausgestattet mit
Lichtrezeptoren und als zellulare Automaten konfiguriert, bilden sie
einen gigantischen phasengesteuerten Interferenz-Detektor, eine
Netzhaut, deren Durchmesser mehr als hundert Meter beträgt.
Boris futtert die Nano-Computer gerade mit Mustern, die alles
registrieren, was von der unwandelbaren Sternenlandschaft abweicht.
Bald schon werden sich die Aufzeichnungen verdichten und als Visionen
zurückkehren, die die Dunkelheit in Bewegung zeigen,
bevölkert von den kalten, toten Gefährten einer
abgestorbenen Sonne.
»Aber wo wird es sein?«, fragt Sadeq. »Wissen Sie
überhaupt, wonach Sie suchen?«
»Ja. Wir dürften eigentlich keine Probleme damit haben,
den Router zu finden«, erwidert Amber. »Und so sieht er
aus.« Als sie den Zeigefinger gegen die vorderen Fensterscheiben
der Brücke schnippen lässt, blitzt ihr Siegelring rubinrot
auf, und etwas unbeschreiblich Bizarres, Glänzendes taucht an
Stelle des Ozeans da draußen im Blickfeld auf. Gruppen von
perlenartigen Kügelchen, die spiralenförmige Ketten bilden,
Scheiben und bunte Wirbel, die sich miteinander verflechten und
ineinander verschlingen, schweben oberhalb eines sich verdunkelnden
Planeten im Raum. »Sieht wie eine Skulptur von William Latham
aus seltsamer Materie aus, nicht wahr?«
»Wirklich sehr abstrakt«, bestätigt Sadeq.
»Es lebt. Und wenn es nahe genug herankommt, um uns zu sehen,
wird es versuchen, uns zu verschlingen.«
»Wie bitte?« Sadeq setzt sich beunruhigt auf.
»Wollen Sie damit sagen, dass es Ihnen keiner erzählt
hat? Ich dachte, wir hätten jeden unterrichtet.« Amber
wirft ihm einen glänzenden goldenen Granatapfel zu, den er
auffängt. Der Apfel der Erkenntnis löst sich in seiner Hand
auf. Zurück bleibt ein Nebel aus Agenten, die Informationen
für ihn einholen, während er sitzen bleibt. »Verdammt
noch mal«, setzt sie milde nach.
Sadeq bleibt wie erstarrt an Ort und Stelle sitzen. Glyphen
zerbröckelnder Mauern, die von Efeu überwuchert sind, legen
sich als Textur über seine Haut und den dunklen Anzug –
Warnsignale, die anzeigen, dass Sadeq derzeit in ein anderes
persönliches Universum eingetaucht ist.
»Hrrrr! Chefin! Hab was gefunden!«, ruft Boris
begeistert vom Fußboden der Brücke hinüber.
Amber blickt auf. Bitte lass es den Router sein! »Leg’s auf den Hauptschirm.«
»Bist du sicher, dass wir damit kein Risiko eingehen?«,
fragt Su Ang nervös.
»Ein Risiko geht man immer ein«, gibt Boris gereizt
zurück und lässt die riesigen Pranken über das
Laufwerk gleiten. »Hier. Seht mal.«
Das Bild vor den Fenstern wandelt sich zum Ausblick auf einen
staubigen bläulichen Horizont: Es sind Wirbel von Wasserstoff,
vermischt mit einer hohen Zirruswolke aus weißen
Methankristallen, die von der verbliebenen Rotation Hyundais +4904 / -56 so durcheinander gerüttelt
worden sind, dass die Temperatur über den Gefrierpunkt von
Sauerstoff gestiegen ist. Es handelt sich um eine riesige
Vergrößerung des Bildausschnitts: Mit bloßem Auge
würde ein Mensch hier nur Schwärze erkennen. Über dem
Anhängsel des gigantischen Planeten ragt eine kleine blasse
Scheibe auf. Das ist Callidice, der größte Mond des
Braunen Zwergs – oder der zweitinnerste Planet –, ein
kahler Felsbrocken, der nur wenig größer als Merkur ist.
Auf dem Bildschirm wird der Mond herangezoomt. Die Kamera schwenkt
über eine zerklüftete Landschaft voller Krater, die mit dem
Sprühnebel von Eisvulkanen überzogen ist. Schließlich
schimmert unmittelbar über dem fernen Horizont etwas
Türkisfarbenes auf und dreht sich vor dem Hintergrund der
frostigen Dunkelheit.
»Das ist es«, flüstert Amber mit mulmigem
Gefühl im Bauch. Alle schrecklichen Befürchtungen
lösen sich jetzt wie nächtliche Gespenster auf. »Wir
haben’s gefunden!« Mit einem Hochgefühl steht sie auf,
um die Freude dieses Augeblicks mit allen Menschen, die sie
schätzt, zu teilen. »Wachen Sie auf, Sadeq! Jemand soll die
verdammte Katze hierher schaffen! Wo ist Pierre? Das muss er
sehen!«
Außerhalb des Palasts herrschen Dunkelheit und Trubel. Am
Vorabend des Gemetzels, das am St.-Bartholomäus-Tag stattfinden
wird, ist die Menschenmenge betrunken und randaliert. Am Himmel
explodiert ein Feuerwerk; durch die offenen Fenster dringt ein warmer
Lufthauch, der Gerüche mit sich bringt: Es riecht nach
Bratenfleisch, nach dem Rauch eines Holzfeuers und nach nicht
abgedeckten Latrinen. In der Dunkelheit, man sieht kaum die Hand
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