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Accelerando

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Titel: Accelerando Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Stross
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Rechtsanwalt
mitsamt seiner vielköpfigen Schlange von Schriftsätzen ist
nicht eingeladen, doch ansonsten ist fast die ganze Bande hier. In
der virtuellen Realität der Field Circus befinden sich
insgesamt dreiundsechzig Uploads – Software, die man aus
Körpern, die aus Fleisch und Blut bestehen, herauskopiert hat.
Und die meisten dieser Körper spazieren zu Hause immer noch
herum. Eine ganze Menschenmenge ist hier versammelt, aber auch in
einer Menge kann man sich einsam fühlen, selbst wenn’s die
eigene Party ist. Erst recht, wenn man sich wegen Schulden sorgt,
obwohl man Milliardärin ist und Nutznießerin des
größten Treuhandfonds der Menschheit, was die
Einschätzung von Kreditwürdigkeit anbelangt. Ambers
Kleidung – schwarze Leggings, schwarzer Pullover –
entspricht ihrer Stimmung.
    »Ihnen liegt irgendetwas auf der Seele.« Eine Hand senkt
sich auf die Rückenlehne des Stuhls neben ihr.
    Sie blickt sich sofort um und nickt, als sie ihn erkennt.
»Tja. Nehmen Sie doch Platz. Die Audienz haben Sie verpasst,
wie?«
    Der magere braunhäutige Mann mit dem sorgfältig
gestutzten Bart und der tief gefurchten Stirn lässt sich auf dem
Stuhl neben ihr nieder. »Solche Veranstaltungen bin ich von
meiner kulturellen Erziehung her nicht gewöhnt«,
erklärt er vorsichtig. »Auch wenn die Situation mir nicht
gänzlich fremd ist.« Ein flüchtiges Lächeln droht
seine steinerne Miene zu sprengen. »Ich fand die
Rollenverteilung ein wenig beunruhigend.«
    »Ich bin nicht Marguerite de Valois, sondern habe eine Rolle
besetzt… Sagen wir einfach: Es hat irgendwie gepasst.«
Amber lehnt sich im Sessel zurück. »Wohlgemerkt hat
Marguerite ein interessantes Leben gehabt.«
    »Und Sie wollten nicht etwa ein moralisch verderbtes,
zügelloses Leben sagen?«, entgegnet ihr Nachbar.
    »Sadeq.« Sie schließt die Augen. »Können
wir es bitte sein lassen, gerade jetzt einen Streit über
absolute Moralvorstellungen vom Zaun zu brechen? Wir müssen
einen Einsatz in der Umlaufbahn durchführen, danach ein Artefakt
aufspüren und einen Dialog eröffnen, und ich fühle
mich sehr müde. Ausgelaugt.«
    »Oh, dann entschuldigen Sie bitte.« Er neigt vorsichtig
den Kopf. »Ist das Schuld Ihres jungen Mannes? Hat er Sie
gekränkt?«
    »Das trifft’s nicht ganz…« Amber hält
inne. Sadeq, den sie vor allem als Schiffstheologen dabeihaben wollte
(für den Fall, dass sie auf Götter stoßen sollten),
hat Ambers persönliches Seelenheil zu seinem Hobby gemacht.
Manchmal empfindet sie das als leichte Schikane, hin und wieder
schmeichelt es ihr auch, aber stets kommt es ihr recht aberwitzig
vor. Indem Sadeq die Quellen, die jedem Bürger des
Ring-Imperiums zur Verfügung stehen, zur blitzschnellen
Recherche genutzt hat, konnte er weitaus mehr publizieren als seine
Kollegen und wurde in beispiellos jungen Jahren zum Hojetolislam gewählt. Sein Original wird vermutlich schon Ayatollah sein,
wenn sie nach Hause zurückkehren. Er geht behutsam mit
kulturellen Unterschieden um, urteilt mit makelloser Logik, achtet
sorgfältig darauf, sie nicht vor den Kopf zu stoßen –
und trachtet fortwährend danach, ihre Entwicklung in moralischer
Hinsicht zu steuern.
    »Es ist ein privates Missverständnis«, erklärt
sie. »Eigentlich möchte ich lieber nicht darüber
reden, bis wir’s geklärt haben.«
    »Ganz wie Sie wünschen.« Er sieht unzufrieden aus,
aber das ist bei ihm nicht ungewöhnlich. An Sadeqs Stiefeln
haftet immer noch der staubige Boden der Kindheit, die er in der
Industriestadt Yazd verbracht hat. Hin und wieder fragt sie sich, ob
ihre Meinungsverschiedenheiten nicht im winzigen Maßstab die
Kluft zwischen dem frühen zwanzigsten und dem frühen
einundzwanzigsten Jahrhundert widerspiegeln. »Doch zurück
zum Hier und Jetzt: Wissen Sie, wo sich der Router
befindet?«
    »In wenigen Minuten oder Stunden werde ich es wissen.«
Amber hebt die Stimme und schickt gleichzeitig mehrere Agenten auf
die Suche. »Boris! Hast du irgendeine Ahnung, wo wir
hinmüssen?«
    Boris dreht sich schwerfällig zu ihr um. Heute steckt er im
Körper eines Velociraptors, und auf begrenztem Raum kann man
sich darin nur schlecht bewegen. »Mach mir ein bisschen
Platz!«, knurrt er gereizt. Er hustet: Das Geräusch, das
hinten aus der geschützten Kehle dringt, klingt
beängstigend. »Untersuche gerade den Speicher des
Segels.« Der hintere Teil des seifenblasendünnen
Lasersegels ist mit winzigen Nano-Computern durchsetzt, die im
Abstand von Mikrometern dort

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