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Accelerando

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Titel: Accelerando Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Stross
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Darunter sind
Wesen, die niemand aus früheren Jahrhunderten als Menschen
betrachten würde: Kreuzungen aus Mensch und Apparat,
Gemeinschaften von Zombies, die aufgrund eigener Optimierungen das
Menschliche weitgehend abgestreift haben, Engel und Teufel der
Software, Finanzinstrumente, die insgeheim ein eigenes Bewusstsein
entwickelt haben. Selbst die gängigen Fantasien dieser Wesen
betreiben mittlerweile nur mehr Selbst-Dekonstruktion.
    Abgesehen von lapidaren Zusammenfassungen der Nachrichten,
dringt nichts davon bis zur Field Circus vor. Das Starwhisp
ist ein Fossil, das den Fortschritt überdauert hat, der sich
da unten immer schneller vollzieht und über die ganze Erde
hinwegfegt. Dennoch wird die Field Circus Schauplatz
für einige der wichtigsten Ereignisse im in die Zukunft
weisenden Teil des Lichtkegels der Menschheit sein.
     

     
    »Sag der Qualle guten Tag, Boris.«
    Boris, der heute zur Abwechslung mal wie ein Mensch aussieht,
wirft Pierre einen finsteren Blick zu und greift mit beiden
Händen nach dem großen Glas. Der Inhalt des
Gefäßes fährt träge die Tentakel aus. Dabei
schiebt sich ein Fangarm fast aus der Flüssigkeit und
reißt eine Cocktailkirsche vom Spieß. »Dafür
wirst du noch büßen«, droht Boris. Die
rauchgeschwängerte Luft, die seinen Kopf einhüllt, ist voll
dämonischer Rachevisionen.
    Su Ang sieht Pierre eindringlich an, der seinerseits zusieht, wie
Boris das Glas an die Lippen hebt und zu trinken beginnt. Die junge
Qualle – winzig, blassblau, ausgestattet mit kugelförmigem
Fortsatz und vier Tentakeln daran – gleitet mühelos
hinunter. Boris zuckt kurz zusammen, als die Nematozysten in seinem
Mund ihre brennende Flüssigkeit absondern, aber bald darauf hat
er die Qualle der Spezies Cubozoan geschluckt. In der Zwischenzeit
hat sein biophysisches Modell Schadensbegrenzung betrieben und das
Brennen in seinem Rachen gemildert.
    »Wow!«, sagt er und nimmt einen weiteren Schluck der
Marguerita aus Meeresfrüchten, die auf der Zunge brennen.
»Probier das bloß nicht zu Hause, alter Junge.«
    »Nein, hier.« Pierre streckt die Hand aus. »Darf
ich?«
    »Mix dir deinen eigenen Giftcocktail, verdammt noch
mal!«, feixt Boris, reicht jedoch das Glas an Pierre weiter, der
es anhebt und trinkt. Der Cubozoan-Cocktail erinnert ihn an
Getränke aus Fruchtgelee, die er während eines heißen
Sommers in Hongkong genossen hat. Zwar spürt er ein scharfes
Stechen am Gaumen, aber es verschwindet rasch und hinterlässt
nur ein leichtes Brennen, als er mit Alkohol nachspült. Dieses
Universum lässt nicht zu, dass die tödliche Medusa ihm
Schlimmeres antut.
    »Nicht schlecht«, bemerkt Pierre, wischt sich ein loses
Stück Fangarm vom Kinn und schiebt das Glas Su Ang zu. »Was
ist mit dem Wicker Man da drüben?« Er deutet mit dem
Daumen über die Schulter, auf den in die Ecke gequetschten Tisch
gegenüber der Kupfertheke.
    »Wen kümmert’s?«, fragt Boris.
»Gehört einfach zur Kulisse, oder?«
    Die Bar ist ein dreihundert Jahre altes Kaffeehaus in
Brauntönen, dessen Biersorten sechzehn Seiten füllen. Auch
die holzgetäfelten Wände haben die Farbe abgestandenen
Biers angenommen. Die dicke Luft riecht nach Tabak, Bierhefe und
Melatonin-Spray, doch nichts davon ist real. Amber hat das Kaffeehaus
den kollektiven Erinnerungen des Franklin-Borgs entnommen und dazu
die in der ganzen Welt verstreuten E-Mails ihres Vaters herangezogen,
in denen er Anmerkungen zu Ambers Zeugung in Amsterdam gemacht hat.
Das Original dieses Cafes steht in Amsterdam, falls diese Stadt noch
existiert.
    »Mich kümmert’s, wer das ist«, sagt
Pierre.
    »Lass es lieber«, bemerkt Ang leise. »Ich glaube,
es ist ein Rechtsanwalt, der sich abgeschirmt hat.«
    Pierre wirft mit finsterer Miene einen Blick über seine
Schulter. »Tatsächlich?«
    Beschwichtigend legt Ang die Hand auf sein Handgelenk.
»Tatsächlich. Beachte ihn nicht. Bis zum Prozess musst du
das ja auch gar nicht, weißt du.«
    Dem Wicker Man, der in der Ecke sitzt, ist anzumerken, dass er
sich in dieser Situation nicht wohl fühlt. Die Gestalt, die ein
rotes Halstuch trägt, ähnelt einer Silhouette aus trockenem
Schilf. Ein Glas Doppelbock füllt die Lücke an der Stelle
aus, an der eigentlich die rechte Hand hätte sitzen müssen.
Von Zeit zu Zeit hebt die Gestalt das Glas, als wolle sie einen
Schluck trinken, und das Bier verschwindet im einzigartigen Inneren
des Dings.
    »Scheiß auf den Prozess«, erwidert Pierre kurz
angebunden. Und

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