Accelerando
Zeitrechnung, die innerhalb der Firewall gilt,
noch genau eine Minute, um alles abzuklären. Länger ist die
Firewall nicht aufrechtzuerhalten. Danach werden die wütenden
Gespenster mit anderen Mitteln versuchen, in die demilitarisierte
Zone vorzustoßen. »Falls du dich darauf einlassen
möchtest, kommen wir dir gern entgegen«, bemerkt er und
denkt dabei an gedrückte Daumen, Hasenfüße und
Firewalls.
»Abgemacht«, übersetzt die Membrane. »Wollen
wir jetzt Anteile/Plasmide/Eigentums- rechte austauschen? Und dann
völlig miteinander verschmelzen?«
Pierre starrt die Schnecke an. »Aber es geht doch um eine
geschäftliche Vereinbarung!«, wendet er ein. »Was hat
Sex damit zu tun?«
»Biete dir eine Entschuldigung an. Ich glaube, wir haben da
einen Übersetzungsfehler. Du hast doch gesagt, es handle sich um
eine geschäftliche Fusion?«
»Aber nicht um eine solche Fusion. Es handelt sich um einen
Vertrag. Wir erklären uns bereit, dich mitzunehmen. Als
Gegenleistung hilfst du uns dabei, die Wunch in die Domain zu locken,
die wir für sie einrichten, und den Router am anderen Ausgang zu
konfigurieren…«
Und so geht es weiter und weiter…
Während sich Amber innerlich wappnet, ruft sie sich die
Adresse des Universums ins Gedächtnis, die das Gespenst ihr
für Sadeqs Leben nach dem Tode angegeben hat. Nach ihrer
subjektiven Zeitrechnung sind seit Sadeqs Aufbruch rund dreißig
Minuten vergangen. »Kommst du mit?«, fragt sie ihre
Katze.
»Glaube nicht.« Aineko, die mit der Gabe stoischer
Gelassenheit gesegnet ist, wendet den Blick ab.
»Bah.« Amber spannt sich innerlich an und öffnet
den Port zu Sadeqs Taschenuniversum.
Wie gewohnt, findet sie sich im Inneren eines Gebäudes
wieder: Sie steht auf dem dekorativen Mosaikboden eines Zimmers mit
weiß getünchten Wänden und Spitzbogenfenstern. Aber
irgendetwas hat sich verändert, und gleich darauf wird ihr klar,
was es ist: Von draußen dringt Verkehrslärm herein, auf
den Dächern gurren Tauben, und jemand ruft etwas über die
Straße hinweg. Hier gibt es Menschen.
Sie geht zum nächsten Fenster, sieht nach draußen und
fahrt sofort zurück: Es ist heiß draußen.
Staub und Dunst hängen in der Luft, die an den Farbton von
Zement erinnert. Darunter befinden sich roh verputzte
Wohngebäude aus Beton, deren Dächer mit
Satellitenschüsseln und billigen, grellen LED-Werbeflächen
überzogen sind. Als sie hinunterblickt, erkennt sie Motorroller
und Autos – dreckige, mit fossiler Energie betriebene Monster;
tonnenweise Stahl und Zündungsmechanismen, nur um einen einzigen
Menschen zu befördern; ein Verhältnis von Masse und
Energie, das schlimmer ist als bei uralten Interkontinentalraketen.
Und dazwischen spazieren farbenfroh gekleidete Menschen hin und her.
Über ihren Köpfen schwirrt eine Überwachungskamera,
deren funkelnde Objektive hin und her schwenken, um den Verkehr da
unten ins Visier zu nehmen.
»Genau wie zu Hause, nicht wahr?«, sagt Sadeq hinter
ihr.
Amber zuckt zusammen. »Ist das der Ort, an dem Sie
aufgewachsen sind? Ist das Yazd?«
»Im wirklichen Raum existiert Yazd nicht mehr.« Er wirkt
nachdenklich, aber viel lebendiger als die kaum ihrer selbst bewusste
Karikatur, die sie vor wenigen Stunden subjektiver Zeitrechnung aus
diesem Gebäude geborgen hat. Damals entsprach das Gebäude
der mittelalterlichen Vorstellung eines Lebens nach dem Tode. Sadeqs
Gesicht verzieht sich zu einem Lächeln. »Was wahrscheinlich
auch gut so ist. Wissen Sie, noch während der Vorbereitung auf
den Aufbruch haben wir damit alles zerfallen lassen.«
»Die Einzelheiten sind gut getroffen.« Amber richtet den
Blick auf die Szene vor dem Fenster und befiehlt ihren Augen,
zahlreiche virtuelle Agenten auszuschicken, damit sie durch die
Außenbezirke der iranischen Industriestadt streifen. Airbusse
durchpflügen den Himmel und befördern Pilger gen Mekka,
Touristen zu den Küstenbädern am Persischen Golf und
Produkte zu den ausländischen Märkten.
»Es ist die Zeit, die ich mir noch am besten ins
Gedächtnis rufen konnte«, sagt Sadeq. »Ich war nicht
lange hier, weil ich erst an der Theologischen Hochschule von Qom
studiert habe und danach in Kasachstan zum Kosmonauten ausgebildet
wurde, aber es sollen die früher Zwanzigerjahre sein. Nach den
Auseinandersetzungen, nach dem Sturz der islamischen
Religionswächter – ein junges, energiegeladenes, liberales
Land voller Optimismus und Vertrauen auf die Demokratie. Werte, die
anderswo nicht hoch im
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